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CCC

HOMEPAGE

PETER ASMODAI


 
auf deutsch

Café

Party Girl

Irene

In den Fluren die Nacht

Zwerghamster

Oktoberfest

Gute Tote sind schwer zu finden

Koch was - aber viel davon

Hundstage

Die Verführung der Nicoletta M.


 
Erzählende Texte
Racconti




italiano

Il Cappulcino

Meister Eckart

Il criceto nano

Con il pusto
























 




 

















Party Girl



Es war früh am Morgen, als sie die Party verließ und sich auf den Heimweg machte. Sie hatte nicht auf die Uhr geschaut, aber es musste schon nach drei sein, denn die Nacht hatte diese samtige Tiefe, die wenige Stunden vor Sonnenaufgang alle Dunkelheit dieser Welt in sich hineinzieht.

Sie trug ein Kleid und eine knapp sitzende grüne Jacke, die ihre schlanke Gestalt und ihre schmalen Schultern betonten, und in der Septemberkühle spürte sie die Feuchtigkeit, die sich beim Tanzen über ihre Haut ausgebreitet hatte und in den Stoff ihres Slips und ihrer übrigen Kleider eingesickert war. Dieser Kleiderstoff kam ihr nun vor wie Salz oder Zucker, die nach Nässe verlangen mit dem Wunsch, sich darin aufzulösen.

Sie fröstelte bei der Vorstellung, dass dies geschähe, spürte dann jedoch zu ihrer Beruhigung, dass der Stoff zwar vielleicht ein wenig geschmolzen und dünner geworden war, sie aber immer noch bedeckte, noch immer Schutz bot, recht wenig allerdings, wie sich gleich zeigen sollte.

Vor ihr tauchte ein Schatten auf, wurde zu einem festen Umriss und einem Gesicht; ein Junge stand vor ihr, etwa fünfzehn Jahre alt, dünn wie ein Bleistiftstrich, doch kräftig genug gezeichnet, um für einen Menschen durchgehen zu können.

"Ey Tante", sagte er. "Du bist vierzig. Ist das nicht was zu alt, um noch auf Partygirl zu machen?"

Wo kam dieser Bengel her, jetzt, morgens um drei? Hatte er keine Eltern, die ihn ins Bett steckten? Sie strich sich über die Hüften, die Schenkel, da war überall noch Stoff. Was wollte dieser Junge von ihr?

Sie drehte sich weg, begann zu laufen, schaute sich immer wieder um, verlangsamte ihren Schritt erst dann, als sie sicher zu sein meinte, dass ihr keiner folgte.

Weil sie bei dem Gerenne Durst bekommen hatte, war sie froh, als vor ihr die Tür eines Supermarktes aufleuchtete, und sie trat ein. Schön, dass es Geschäfte gab, die morgens um drei auf hatten. Gab es Geschäfte, die morgens um drei auf hatten? Egal. Sie schlenderte durch die Regalreihen und nahm einen Energy-Drink mit.

Vor ihr an der Kasse standen nur zwei Leute: eine dicke Frau um die sechzig und ein ziemlich heruntergekommener älterer Mann mit speckigen Kleidern und schlohweißen Haaren, die bestimmt schon sehr lange kein Shampoo mehr gesehen hatten.

Plötzlich drängte sich ein junger Kerl zwischen sie und die dicke Frau vor ihr. Sie war empört und wollte etwas sagen, da merkte sie, dass der Bursche nicht allein war, sondern dass er mit einem redete, der sich hinter sie gestellt hatte, in einer Sprache, die sie nicht verstand. Sie war jetzt zwischen den Beiden eingekeilt. Der hintere musste seinen Mund sehr nahe an ihrem Nacken haben, denn sie spürte, wie er atmete. Den Typen schien das aber nicht weiter zu kümmern. Der Vordere drehte sich jetzt ganz um, berührte sie ungeniert mit seiner Hand am Oberarm und schob sie einige Zentimeter zur Seite, damit er seinen Kameraden besser sehen konnte. Da wandte auch sie sich um und bemerkte zu ihrem nicht geringen Schrecken, dass da der Fünfzehnjährige stand. Zwischen den beiden fuhr so etwas wie elektrischer Strom ihre Nervenbahnen entlang. Eine Art Magnetfeld war um sie herum entstanden.

Die Kassiererin, die ein auffällig rotes Gesicht hatte, fragte den alten Mann, ob er Treuepunkte wolle. Da dieser verneinte, rief sie laut: "Wer will die Treuepunkte von diesem Herrn?" Kaum hatten sie dies gehört, stürzten sich die beiden jungen Männer vor zur Kasse und griffen nach den Treuepunkten. In diesem Augenblick sah die Vierzigjährige, dass die Männer nichts eingekauft, sondern einfach nur da gestanden hatten und sofort den Laden verließen, als sie die Treuepunkte in der Hand hielten.

Sie zahlte und strebte dem Ausgang zu, doch die automatische Glastür vor ihr öffnete sich nicht. Gleich ging sie zurück zur Kasse, hielt der Rotgesichtigen den Kassenzettel hin, sagte, sie habe doch bezahlt und fragte: Warum komme ich nicht hinaus? Sie erntete einen verständnislosen Blick und wiederholte ihre Frage, diesmal mit mehr Nachdruck. Die Kassiererin schaute ungnädig und versetzte: "Haben Sie Ihren Führerschein mit?"

Da schämte sich die Frau. Man hatte sie an einem empfindlichen Punkt getroffen, denn so lebenstüchtig sie sich sonst einschätzte, die Führerscheinprüfung hatte sie nicht geschafft, eine Hürde, die andere mit der größten Selbstverständlichkeit nahmen.

"Haben Sie dann wenigstens eine Bescheinigung, dass Sie nicht Auto fahren können?" Die Frau blickte verwirrt und die Kassiererin setzte nach: "Sie brauchen eine Bescheinigung, so wie Leute, die nicht gehen können."

Behindert! dachte die Frau. Die denkt, ich bin behindert und brauche einen Behindertenausweis. Wie komme ich jetzt aus diesem Supermarkt?

Während noch diese Gedanken in ihrem Kopf kreisten, stand sie vor dem Ausgang, der verschlossenen Schiebetür. Diese öffnete sich jedoch unversehens, als von außen zwei junge Männer heranstürmten und in den Laden traten. Blitzartig und wie nebenbei erkannte sie die Frau als die Beiden von vorhin, die Treuepunkte geholt hatten. Sie nutzte sofort die Gelegenheit und schlüpfte hinaus ins Freie. Einmal draußen, zögerte sie jedoch, nach Hause zu gehen. Es war irgendetwas geschehen. Auf einmal hatte sie so eine Ahnung, dass sich in diesem Supermarkt ein Geheimnis verbarg, das direkt mit ihr zu tun hatte. Außerdem regnete es heftig.

Sie drehte auf dem Absatz um, ging auf die Glastür zu und diese öffnete sich. Als sie eingetreten war, flammten um sie herum immer mehr Lichter auf, bis das Geschäft gleißend hell leuchtete wie ein südlicher Sonnentag. Es war, als ob man auf sie, gerade auf sie gewartet hätte. Sie zog ihre Schuhe aus und stellte sie neben den Eingang.

Copyright Peter Asmodai


























Café



Nachdem der Ober den Cappuccino auf seinen Tisch gestellt hat, hört die Flüssigkeit in der Tasse nicht auf, sich zu bewegen. Im Gegenteil, sie schwappt heftiger, und aus dem Milchschaum taucht ein Kopf auf. Der Kopf hat einen Schnabel. Es ist ein Küken. Seine Flaumfedern sind kaffeebraun durchgefärbt.

S. hilft dem Tier aus der Tasse, hält es behutsam in der Hand und streichelt es über seinen zitternden Flaum. Dann ruft er den Ober.

Das habe ich in meiner Kaffeetasse gefunden, sagt er und zeigt dem Mann das Küken.

Ein Küken im Kaffee, sagt der silberhaarige Ober mit so etwas wie Aufleuchten und Verehrung in der Stimme, das ist schon seit vielen Jahren nicht mehr vorgekommen. Der letzte, der ein Küken in seinem Kaffee gefunden hat, war ein Student. Er wurde danach in allerkürzester Zeit Professor und eine überragende Kapazität auf seinem Gebiet. Heute ist er weltberühmt.

Warum passiert mir das nicht? fragt ein Herr am Nebentisch. Er hat ein hartes Gesicht und einen freudlosen Mund. Wie jeder hier kenne ich die Geschichte von dem Studenten. Tag für Tag besuche ich dieses Café, aber aus meiner Tasse ist noch nie ein Küken aufgestiegen.

Wir suchen das nicht aus, sagt der Ober. Allein das Küken entscheidet. Es erscheint, wenn der Richtige zu uns kommt, und das ist selten genug. Ich bin schon vierzig Jahre hier und erlebe es jetzt erst zum zweiten Mal. Vor jenem Studenten damals soll es noch einen ähnlich spektakulären Fall gegeben haben, aber das war lange vor meiner Zeit.

Sei mir willkommen, Küken, sagt S. und streichelt es sanft über sein Köpfchen. Wirst du bei mir wohnen?

Hast du einen Garten? fragt das Küken.

Ja, in den Hügeln. Von dort wirst du das Meer sehen können, zwar nur an besonders klaren Tagen, aber ich werde mit dir zum Strand hinabsteigen, so oft du es möchtest.

Wirst du mir in deinem Garten einen Tempel bauen?

Ja, ich habe noch ein paar Bretter vom Baumarkt. Wahrscheinlich wird er aussehen wie ein Hühnerstall, aber er bekommt ein geschwungenes Dach, und seine Wände streiche ich dunkelrot, innen und außen.

Beide schweigen. Nach einer Weile sagt S.: Jetzt fehlt dieser Geschichte nur noch ein Schluss.

Nein, sagt das Küken. Jetzt fehlt nichts mehr.


Copyright Peter Asmodai































Gute Tote sind schwer zu finden


Winfried Schindler erlitt einen Schlaganfall. Er fiel nicht um, sondern starb und blieb an dem Tisch sitzen, wo er sich zum Mittagessen niedergelassen hatte. Seine Tochter Hanna ent- deckte ihn erst an einem der folgenden Tage. "Papa!" rief sie, doch er hörte sie nicht mehr.

Schon seit mehr als einem Jahr hatte er ihr eingeschärft, er wolle, wenn es so weit sei, nicht verbrannt und nicht auf dem Friedhof beerdigt werden. Er marschierte an einem der wenigen Nach- mittage, an denen er nicht betrunken war, mit ihr hinaus bis zum Rand des Waldes, der ihm ebenso gehörte wie einige daneben liegende Felder, schlug einen Pflock in die Erde und sagte: "Hier soll mein Grab sein."

"Ja, geht denn das überhaupt?" wagte sie einzuwenden. "Die Gemeinde ..."

"Die Gemeinde? Wieso die Gemeinde? Mein Körper gehört mir, mir ganz alleine. Da hat sonst keiner was zu sagen. August weiß Bescheid und wird dir beim Graben helfen."

August, der Nachbar, hatte einen Minibagger, den er ihr stolz vorführte. "Eine Stunde höchstens, dann ist der Fall erledigt", hatte er gesagt. Es sollte sehr viel länger dauern, denn zwar hatte die Totenstarre sich bereits wieder gelöst, doch wollte Hanna ihren Vater nicht einfach hinlegen und bat August, ihn so zu beerdigen, wie er gestorben war. Sitzgräber hatte es schon vor Tausenden von Jahren gegeben. So abwegig war der Gedan- ke nicht, doch kam August beim Graben ins Schwitzen. Er musste vier Meter tief hinab. Wildschweine und andere Tiere sollten nicht die Erde aufwühlen und die Leiche anfressen können. Also schuf er zunächst eine steil abwärts führende hohle Gasse und dann hob er an deren unterem Ende einen Schacht aus, der tief und breit genug war, um den sitzenden Winfried Schindler aufzunehmen.

Der Tote hatte schon angefangen zu riechen, als sein Grab end- lich fertig war. Man ließ seinen Küchenstuhl hinab, setzte ihn darauf, breitete die Wolldecke von seinem Bett über ihm aus und füllte die ganze Vertiefung bis obenhin mit Erde. Diese stampfte man fest und rammte wieder den Pflock hinein, den er an dieser Stelle hinterlassen hatte. Ein Kreuz, hatte er gesagt, wolle er nicht, er, der schon seit vielen Jahren Atheist war. An den Pflock hefteten sie ein Metallschild mit seinem Namen.

"Hanna, das alles gehört nun dir", sagte August. Hanna schaute auf die armselige Holzhütte, in der der alte Mann gehaust hatte, auf das verrostete Schrottauto und das kaputte Fahrrad am Hintereingang, auf den Hof, der mit vielerlei altem Zeug zuge- müllt war, und auf den Wald, dessen Rand jetzt dunkel und drohend erschien und gar nicht den Eindruck aufkommen ließ, er könne jemandem unter seinen Bäumen Frieden gewähren.

Aus dem Wald und den Feldern machte sie sich nichts, obwohl sie einige Jahre bei dem Alten gelebt hatte. Der hatte sie nach dem frühen Tod ihrer Mutter bei seiner Schwester unterge- bracht, die kinderlos war und sich freute, dass mit dem Mädchen Leben in ihre Wohnung kam. Hanna war breit gebaut, hatte ein frisches, rosiges Gesicht und kräftige Hände wie eine Bäuerin, ließ sich zur Physiotherapeutin ausbilden und lebte zufrieden bei ihrer Tante in der Stadt. Zu ihrem Vater fuhr sie nur selten. So war es ein reiner Zufall, dass sie ihn schon bald nach seinem Tod fand, und sie hatte nicht vor, sich noch lange an jenem Ende der Welt aufzuhalten, höchstens, um das Land und die Hütte zu verkaufen.

"Verkaufen?" rief August entsetzt. "Du willst deinen Vater ver- kaufen? Der ist hier begraben und glaubst du, jemand will das Land? Das kauft dir keiner ab, denn die Leute haben Angst, dass Winfried sie sonst in der Nacht heimsucht. Den Vater verkaufen, das macht man nicht und das wird dir Unglück bringen."

Auch seine Frau sah erschrocken aus. Ihr dickes Gesicht war so gelb wie die Haut auf dem Hals eines Huhns, weil auch sie sich hauptsächlich von Mais ernährte. Hanna lächelte nachsichtig über den Aberglauben dieser primitiven, zurückgebliebenen Menschen und sagte:

"Mein Vater wird niemandem etwas tun. Wir haben ihn mit extra starken Seilen auf seinem Stuhl angebunden und die Erde so gut festgestampft, dass er nie wieder von dort heraus kann."

"Täusche dich nicht über die Macht der Toten", erwiderte die Frau. "Sie dulden es nicht, dass man sie verrät und keiner kann sie aufhalten, wenn sie beschlossen haben, sich zu rächen."

Tatsächlich fand sich in den umliegenden Ortschaften niemand, der mit dem Land Hannas etwas zu tun haben wollte. Sie musste Anzeigen aufgeben und den Preis des Anwesens immer weiter herabsetzen, bis es schließlich der Besitzer eines Sägewerks in P. kaufte, einer Stadt gut fünfzig Kilometer entfernt. Der schickte Lastwagen, schwere Waldmaschinen und Arbeiter, die die Bäu- me absägten, die Stämme aufluden und alles abtransportier- ten, auch die Äste, die sie zu Hackschnitzeln verarbeiteten. Sie kamen nicht zurück, die Hütte verfiel und die angrenzenden Raps- und Kartoffelfelder blieben als Brachland liegen. Die ganze Fläche wurde bald von stachligem Gestrüpp überwuchert, neue Bäume wuchsen nach, Schwarzwild, Wölfe, Dachse und, so erzähl- te man sich, auch Braunbären siedelten sich dort an. Menschen trauten sich bald nicht mehr in diese Wildnis. Einige große Vögel zogen darüber am Tag ihre Kreise, ließen nachts ihre langgezogenen Klagerufe hören, und die Menschen schlossen ihre Fenster, verriegelten die Türen und zogen sich die Bettdecke über den Kopf.

Als Hanna zurück war in der Stadt, massierte sie einen Patienten und der fragte: "Haben Sie von Dr. S. gehört? Sie wissen schon, der aus dem Kreiskrankenhaus." - "Dr. S.???" - "Ja, der einem jungen Burschen den Blinddarm entfernen sollte und ihm gleich noch eine Niere mit herausgeschnitten hat. Eine Niere, einfach herausgeschnitten - und verkauft. Unsere Welt ist verrottet. Die Menschen haben vor nichts mehr Respekt. Verkaufen, verkau- fen. Es geht immer nur ums Geld."

Hanna wurde blass um die Nase, dachte an den Wald und die Felder, sagte aber nichts. Am Abend rüttelte es an ihrer Woh- nung. Sie lugte durch den Türspion und als sie niemanden sah, legte sie die Kette vor und öffnete vorsichtig. Der Flur war leer. Vielleicht hatte einer der Nachbarn den Hauseingang offen stehen lassen und ein Windstoß war durch das Treppenhaus gefegt. Danach schlief sie schlecht, sie wurde von schweren Träumen geplagt. So folgte Nacht auf Nacht. Wenig Schlaf, schlimme Träume.

Hannas Patienten hatten sie immer geliebt wegen ihres feinen Einfühlungsvermögens, doch das stumpfte infolge dieser Nächte allmählich ab. Sie lebte wie in Glaswolle gepackt, war müde und fahrig. Die Kraft in den Händen jedoch blieb. Das sollte ihr zum Verhängnis werden. Eines Tages massierte sie einem jungen Mädchen die Schultern und den Halsansatz. Sie drückte so fest zu, dass sie das Kind erwürgte.

Als Hanna sah, was sie angerichtet hatte, verließ sie sofort die Praxis. Man suchte sie, fahndete nach ihr, doch fand man nicht heraus, wohin sie verschwunden war. Mehrere Leute gaben bei der Polizei an, sie in einem Zug gesehen zu haben. Und ein Nach- bar ihres verstorbenen Vaters behauptete, er habe beobachtet, wie sie in das verwilderte Grundstück eingedrungen sei. Doch glaubte man ihm nicht, denn wer war er schon? Allem Anschein nach ein primitiver, zurückgebliebener Mensch, der sich nur wichtig machen wollte.


Copyright Peter Asmodai






























Oktoberfest


Während des Münchner Oktoberfests herrscht in den S- und U-Bahnen zwischen dem Hauptbahnhof und der Theresienwiese bzw. der Hackerbrücke eine drangvolle Enge und davon profitieren die Taschendiebe. Sie haben leichtes Spiel, denn die vielen Touristen sind oft schon reichlich angetrunken, bevor sie überhaupt auf dem Festplatz ankommen, und auf der Rückfahrt natürlich noch viel mehr, jedenfalls sind die meisten so lull und lall, dass sie nicht merken, wenn man ihnen etwas klaut. Weil die Polizei das weiß, sind oft Beamte in Zivil unterwegs, die versuchen die Dinge im Auge und unter Kontrolle zu behalten.

Im Vertrauen auf die Macht und die Weisheit der Ordnungshüter quetschte sich also ein Herr aus München - er hieß Georg Schneider - an der Theresienwiese in einen der vollen Züge der U 5, und obwohl er nicht betrunken war, gelang es einem Dieb ohne Schwierigkeiten, ihm seine Brieftasche zu entwenden. Dies blieb jedoch nicht unbeobachtet, und augenblicklich packte jemand den Dieb am Arm und nahm die Brieftasche an sich.

"He, lassen Sie mich!" rief der Dieb.

"Nein, du kommst jetzt mit. Wir steigen an der nächsten Haltestelle aus! Hallo, Sie!" sagte er dann zu Herrn Schneider und tippte ihn dabei mit dem Portefeuille auf die Schulter, "Man hat Ihnen dies hier gestohlen. Das ist doch Ihre?"

Herr Schneider drehte sich um, schaute die beiden an, verstand nach einiger Zeit die Situation und wollte nach seinem Eigentum greifen. Doch der andere hob seine Hand und sagte:

"Halt, halt, so schnell geht das nicht. Das muss alles seine Ordnung haben. Ich steige jetzt mit diesem Burschen hier aus, und Sie würde ich bitten, dass Sie mitkommen. Dann regeln wir alles Weitere."

Der nächste Halt war der Hauptbahnhof und alle drei verließen dort den Zug. Kurz darauf saßen sie in einem kleinen Wachlokal. Der Dieb zeigte seinen Ausweis vor, hatte seinen Wohnsitz in München.

"Große Konsequenzen wird die Geschichte für ihn nicht haben", meinte der Taschendiebjäger. "Den lässt der Richter morgen wieder frei, und dann kann er so weitermachen wie bisher. Irgendwann bekommt er seinen Prozess und eine lächerliche Strafe, die ihm glatt am Arsch vorbei geht. So ist das immer. Jetzt zu uns: Ich bräuchte Ihren Namen und Ihre Anschrift. Können Sie sich ausweisen?"

"Mein Personalausweis ist da drin", sagte der Mann, zeigte auf das Portefeuille und wollte danach greifen.

"Nein, nein! Lassen Sie, ich mache das schon", sagte der Andere und zog den Ausweis hervor. "Georg Schneider, wohnhaft in der Lerchenauer Straße." Er drehte das Dokument hin und her und notierte auf einem Formblatt sorgfältig alle persönlichen Daten einschließlich Größe und Augenfarbe. Dann stand er auf und fotokopierte die Vorder- und Rückseite, vermutlich, damit er das Foto und irgendwelche anderen Besonderheiten ebenfalls erfasste.

Als er fotokopiert hatte und schließlich den Stift beiseitelegte, fragte Schneider in höflichem Ton: "Sind Sie fertig? Könnte ich jetzt bitte meine Brieftasche wiederhaben?"

Der Andere blickte Herrn Schneider halb entrüstet und halb mitleidig an:

"Ihre Brieftasche wiederhaben? Wo denken Sie hin?! Auf keinen Fall, dies ist ein Beweismittel. Das werde ich dem Richter vorlegen müssen. Das können Sie nicht einfach so mitnehmen."

"Wie bitte? Sie geben mir meine Brieftasche nicht zurück?"

"Wenn ich Ihnen dieses Beweisstück aushändige, ist das, als würden Sie an einem Tatort das Messer sehen, mit dem das Opfer erstochen wurde, und dann sagen Oh, das gehört mir und es einstecken oder das Ohr mitnehmen, das der Täter dem Opfer abgeschnitten hat."

"Bekomme ich dann wenigstens das Bargeld, die EC- und Kreditkarten?"

"Unmöglich, die sind für den Richter unverzichtbar, wenn er die Schwere des begangenen Delikts einschätzen soll. Haben Sie nicht irgendwelche Verwandte oder Freunde, die Ihnen Geld leihen?"

"Kann ich dann wenigstens meinen Ausweis zurückbekommen? So könnte ich mich an eine Bank wenden und mir einen Kredit besorgen."

"Leider auch nicht. Alles muss so zusammenbleiben, wie es jetzt ist. Sie können ja ins städtische Bürgerbüro gehen und sich einen vorläufigen Ausweis ausstellen lassen."

"So einfach geht das nicht", sagte Schneider. "Damit ich dort etwas bekomme, muss ich nachweisen, wer ich bin. Dazu bräuchte ich wenigstens den Führerschein, und der ist auch da drin."

"Tut mir wirklich Leid. Da kann ich Ihnen nicht helfen. Sie haben ein Auto? Das dürfen Sie ohne Führerschein natürlich nicht mehr benutzen."

"Was?" sagte Herr Schneider. "Ich muss aber geschäftlich in die Schweiz."

"Dann muss eben ein Kollege von Ihnen fahren. Ohne Ausweis können Sie ohnehin nicht ins Ausland reisen. Sprechen Sie doch mit den Angestellten im Bürgerbüro. Da werden Sie sicher einen Weg finden, wie Sie sich die Dokumente besorgen können, die Sie brauchen."

"Mag sein", meinte Schneider, "aber damit werden Wochen oder Monate hingehen, und ich brauche die Papiere jetzt. Wie lange dauert es eigentlich bis zur Verhandlung?"

"Das kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen. Manchmal geht das ruck zuck und in drei, vier Monaten ist alles vorbei. Doch wenn Sie Pech haben, kann sich das ein oder zwei Jahre hinziehen. Oft sind die Gerichte so überlastet, dass ein früherer Termin nicht möglich ist."

Herr Schneider war völlig am Boden zerstört, schleppte sich nach Hause, bis an den Stadtrand von München, nach Feldmoching, wo er wohnte, zu Fuß natürlich, denn die Monatskarte für den Münchner Verkehrsverbund steckte auch in der Brieftasche und war ein Beweismittel. Und Geld für eine neue hatte er ja nicht. Er legte sich, endlich angekommen, auf sein Bett, ächzte und fluchte und heulte vor Wut. Als er sich am nächsten Tag entnervt auf den Weg ins Bürgerbüro machte, hielt neben ihm ein Auto. Es war ein gepflegter Mittelklasse-Wagen, und am Steuer saß der Dieb.

"Armer Kerl!" sagte er und schaute Herrn Schneider freundlich an. "Na los! Steigen Sie schon ein! Wo müssen Sie denn hin?"

Herr Schneider sagte es ihm und der Dieb brachte ihn in die Rupertstraße; letzterer stellte sich übrigens mit Frank vor; Georg, sagte Herr Schneider, und sie schüttelten einander die Hand und von da an sagten sie Du. Natürlich konnten die Angestellten im Kreisverwaltungsreferat für Herrn Schneider zu ihrem, wie sie sagten, größten Bedauern überhaupt nichts tun, denn irgendeine Art von Ausweis hätten sie auf jeden Fall gebraucht und Herr Schneider hatte keinen. Doch Frank wusste Rat, er besorgte seinem neuen Freund Georg einen Personalausweis und einen Führerschein, die beide täuschend echt aussahen, wahrscheinlich sogar echt waren, und was machte es schon, dass da Paul Müller draufstand und nicht Georg Schneider? Einen Nachweis für seinen früheren Namen gab es ja sowieso nicht, und so gewöhnte er sich bald an seine neue Existenz als Paul Müller.

Die Fotos sahen ihm sogar ziemlich ähnlich, nur dass Georg Schneider blond war und eine Brille brauchte und Paul Müller keine Brille trug und dunkle Haare hatte. Der neue Paul Müller legte also als erstes seine Brille ab. Einige Zeit lebte er daraufhin in einer Art verschwommener Unterwasserwelt, doch wurde seine Sicht mit jedem Tag klarer und nach etwa einer Woche sah er sogar besser als vorher mit Brille.

Schwieriger war die Geschichte mit der Haarfarbe. Er färbte sich seine Haare in dem dunklen Ton, den sie auf dem Paul-Müller-Foto hatten, aber dann wuchsen da immer wieder blonde Haare nach, und er kämpfte wochenlang mit der neuen Farbe, doch irgendwann hörte er auf zu kämpfen und da wurden seine Haare auch von unten her ganz von selbst dunkel.

Frank tat alles für ihn, besorgte ihm nicht nur Dokumente, sondern auch genügend Bargeld. Natürlich war dies nicht ganz billig. Georg, der jetzt Paul hieß, musste ein Papier unterschreiben, in dem er sich zu allerlei verpflichtete, und die Zinsen waren schon ein bisschen hoch, aber dies war ja auch ein Notfall, in dem ihm kein anderer geholfen hätte.

Als Paul Müller hatte er zunächst ein paar Probleme bei seiner Arbeit. Zwar bekam er von der Versicherung, bei der er arbeitete, weiter anstandslos sein Gehalt überwiesen, doch konnte er dieses nicht mehr vom Konto abheben, weder am Bankautomaten noch am Schalter, dazu hätte er eine EC-Karte gebraucht bzw. einen Identitätsnachweis auf den Namen Georg Schneider und beides hatte er nicht. Er fragte in der Buchhaltung, ob er sein Gehalt auch in bar bekommen könnte, doch die Damen dort betrachteten ihn halb amüsiert und halb verstimmt und sagten ihm, ihre Software lasse so etwas nicht zu. Die Zeiten seien schon lange vorbei, als die A ngestellten ihren Lohn noch am Freitag in einer Tüte nach Hause oder in die nächste Wirtschaft trugen.

Er sprach mit Frank über das Problem und der sagte: "Ich glaube, da gibt es bloß einen Ausweg: Du kündigst deine Stelle und ich besorge dir eine andere, wo Bargeld kein Thema mehr ist."

Als Paul bzw. Georg sich mit seinem Chef unterhielt, war dieser sehr entgegenkommend, da die Geschäftsleitung die Zahl der Mitarbeiter ohnehin reduzieren wollte, und er bot eine kleine Abfindung an sowie eine Kündigung von Seiten des Arbeitgebers, so dass Georg / Paul noch Arbeitslosengeld erhalten würde. Zum Glück bekam er sowohl die Abfindung wie auch das monatliche Arbeitslosengeld als Barscheck, und die Schecks konnte er beim nächsten Postamt problemlos einlösen.

Frank vermittelte ihm einen Kurzlehrgang, in dem er medizinische Fußpflege lernte, sagte ihm, er würde bei seinen Hausbesuchen sicherlich vielen hübschen jungen Frauen begegnen, doch war das nicht der Fall, denn Anfragen wegen Schönheitspflege hatte er kaum, und wenn doch, war das recht mühsam, denn seine Kunden waren überwiegend ältere Damen, deren Nägel im Laufe eines langen Lebens Zeit gehabt hatten, Schicht um Schicht zu wachsen, bis sie am Ende so dick waren, dass man sie mit der Schere oder einem Knipser nur noch mit Mühe und Anstrengung zurückstutzen konnte, eigentlich eine Beißzange gebraucht hätte oder eine Schleifmaschine. Mehr als alles Andere musste er sich jetzt um eingewachsene Nägel kümmern, Hornhaut abfeilen, Hühneraugen entfernen oder Fußpilz bekämpfen. Trotz allem machte ihm seine neue Arbeit jedoch Spaß, denn er konnte neu anfangen als Paul Müller, wurde bei seinen Hausbesuchen von den oft recht einsamen alten Menschen fast immer freudig willkommen geheißen und bekam nach jeder Sitzung nicht nur sofort seinen Lohn bar auf die Hand, sondern häufig noch ein Trinkgeld dazu.

Paul pries sich im Internet an und kannte bald auch einige Friseure, die ihn empfahlen und seinen Flyer in ihre Schaufenster hängten. Die Mundpropaganda der ersten Kunden tat ein Übriges, so dass Paul schon recht bald von seiner Arbeit als Fußpfleger leben und sogar monatliche Raten für Frank abzweigen konnte. Mit seiner neuen Arbeit wechselte er auch sein Klingelschild. Statt "Georg Schneider" stand da jetzt "Paul Müller", was niemanden störte. Seine Wohnungsnachbarn kannten ihn ohnehin nicht, und diejenigen, die bemerkten, dass man ein neues Namensschild an der Tür befestigt hatte, freuten sich, dass da scheinbar einer eingezogen war, der nicht, wie viele andere, vorher die Fliesen im Bad heruntergeschlagen und mit Bohrhammer und Schleifmaschine wochenlang für nervenden Baulärm gesorgt hatte.

Seltsamerweise war es jedoch nicht so, als hätte er bloß seinen bisherigen Namen abgelegt wie einen alten Mantel, den man in einen Container stopft, sondern als hätte er sich zusammen mit dem Mantel auch von einem Großteil seines bisherigen Lebens und auch von einigen seiner Probleme losgesagt. Unter anderem änderte sich zu seinem Erstaunen sein Verhältnis zu seinen Nachbarn. Während Georg Schneider vorher stets eilig an Entgegenkommenden im Flur vorbeigegangen war und sich höchstens ein "Hallo!" abgerungen hatte, blieb Paul Müller gerne stehen und suchte das Gespräch, fragte, interessierte sich für die Anderen, lud sie ein, und so entstanden mit der Zeit Freundschaften und er wuchs in eine Hausgemeinschaft hinein.

Vollends veränderte sich seine Lebenssituation, als er bei der Arbeit tatsächlich, wie Frank vorhergesagt hatte, eine junge und hübsche Frau namens Elisa kennen lernte. Vorher - als Georg Schneider - hatte er sich mit seinen Freundinnen kaum mehr beschäftigt als mit irgendwelchen Vorgängen in der Versicherung: routiniert, aber ohne allzu viel Gefühl und Geduld an sie zu verschwenden. Gut, als Achtzehnjähriger hatte er manchmal stundenlang mit einem Mädchen geknutscht, öffentlich und gut sichtbar, um mit seiner Freundin anzugeben. Später hatte er eine andere hingebungsvoll und unendlich lange am ganzen Körper gestreichelt und geküsst und es war sehr schön gewesen, und dann hatte er einige andere kennen gelernt, die nicht weniger aufregend gewesen waren. Seine sich verströmende Zärtlichkeit war zwar nie ganz versiegt, aber irgendwann doch zu einem bloßen Kanal verkommen, der direkt zum Sex führte und wieder von diesem weg, auch von ihm selber, Georg, weg.

Doch seit er sich in Paul Müller verwandelt hatte, war plötzlich nichts mehr wie vorher. Er hatte Lust, diese Elisa kennen zu lernen, fühlte sehr viel mehr als bloß ein Verlangen nach ihrem schönen Leib. Da war nur wenig Oberfläche, sie riss ihn gleich und entschieden hinab in ihre Tiefe und er ging begeistert mit ihr unter und tauchte wieder auf und begegnete ihr, die sie feinfühlig war und klug und ihn mit ihren Geschichten faszinierte. Er bekam bei und mit ihr das Gefühl, dass er noch nie mehr gelebt hatte als in diesem Augenblick.

So vergingen Tage, Wochen und Monate voller beschwingter Leichtigkeit, bis er eines Tages einen Brief an einen Herrn Paul Müller erhielt, denn auf seinem Briefkasten stand noch immer auch dessen Name. och immer beide Namen. In diesem Brief wurde Georg Schneider mitgeteilt, der an ihm verübte Diebstahl komme demnächst zur Verhandlung. Er möge sich bereit halten für die allfällige Überlassung seiner Brieftasche.

Obwohl er mit der voraussichtlichen Rückgabe wieder in allen Belangen als Georg Schneider würde auftreten können, steckte er seine Paul-Müller-Dokumente ein, als er zu der Verhandlung ging.

Sein Freund Frank wurde, wie erwartet, zu einer äußerst geringen Strafe verurteilt und verließ lächelnd den Gerichtssaal. Am Ende blieb vor dem Richter die Brieftasche liegen und man rief einen Georg Schneider auf, sein Eigentum wieder an sich zu nehmen. Der Bestohlene ging nach vorne, und damit alles seine Richtigkeit hatte, verlangte man von ihm, sich auszuweisen. Natürlich konnte er das nicht, da seine jetzigen Ausweise sämtlich auf Paul Müller lauteten und er überdies mittlerweile ganz anders aussah als Georg Schneider auf den einbehaltenen Passfotos, dunkel, ohne Brille und auch jünger, denn die Liebe nimmt die Jahre weg. Es nützte ihm nichts, dass er sagte, er komme im Auftrag von Georg Schneider, denn in diesem Falle hätte er eine gerichtsfeste Vollmacht benötigt und die hatte er nicht.

So kam es, dass die Brieftasche, da sich ihr rechtmäßiger Eigentümer nicht meldete, vom Gericht einbehalten wurde und selbiger sie seitdem nie wieder gesehen hat. Zwar wurde so der irdischen Gerechtigkeit nicht wirklich Genüge getan, doch dürfen wir uns Paul Müller trotzdem als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Copyright Peter Asmodai 2011

































Irene



In Irenes Zimmer schwang sich eine Treppe hinauf bis zu einer Dachstube, die Dornröschens Turmgelass hätte sein können, ein Ort, wo scheinbar hundert Jahre lang alles still stand. Es war ein Studio mit Bad und Kochnische - und ohne Außenfenster. Deswegen gab es neben der Eingangstür einen Ventilator und eine Glasscheibe, die Tageslicht hereinließ und den Blick freigab auf Irene und alles, das sie um sie herum war.

Es war ein Zimmer voller Blumen. Irene liebte sie und brachte es nicht über sich, auch nur eine von ihnen wegzuwerfen, wenn sie ihre Farbe verloren und ihren Duft. So standen sie fast alle da als trockene Stengel, umgeben von abgefallenen Blütenblättern. Auch Irene fehlte etwas. Sie war ohne Geruchssinn auf die Welt gekommen, und deswegen störte es sie nicht, wenn herumliegende Brotreste oder Käsestücke sich mit Schimmel überzogen, vor sich hin faulten und zu übel riechenden bläulich-grünlichen Bröseln zerfielen. Weil sie selbst den stechendsten Geruch nicht bemerkte, blieb auch eine Dorade seit einem Jahr ungestört in einer Ecke liegen. Sie hatte den Fisch geschenkt erhalten, war aber nicht dazu gekommen, ihn zu kochen und zu essen, und so rottete und stank er vor sich hin.

Während bei ihr alles verblich und vermoderte, schien für den Bewohner der oberen Stube die Uhr nicht zu ticken. In all den Jahren, die Leonardo dort oben wohnte, hatte er kein einziges Kopfhaar verloren und sein Gesicht war glatt und faltenlos wie ein Kiesel. Sie dagegen stellte mit Unbehagen fest, dass ihre Hüften runder wurden und dass die Cellulitis sie gepackt hatte und besonders den Übergang zwischen ihren Oberschenkeln und dem Gesäß immer weicher, ja, schwabbelig machte.

So wie Blinde meist genauer hinhören als andere und einen außergewöhnlich feinen Tastsinn entwickeln, so roch Irene zwar nichts, besaß aber eine schmerzliche Empfindlichkeit für das älter Werden, das allmähliche Vergehen. Sie fühlte sich den Blumen, dem Brot und dem Fisch nahe und spürte eine zunehmende Verbitterung gegenüber ihrem Mitbewohner, der ganz augenscheinlich von der Vergänglichkeit unberührt blieb. War es Neid, was sie spürte? Zumindest traf es sie wie Hohn, wenn er sich die Nase zuhielt, während er durch ihr Zimmer eilte und die Treppe hinauf verschwand.

Sie grüßten sich, wenn ein lieblos hingeworfenes "Hallo" als Begrüßung gelten konnte. Er blieb ansonsten auf ebenso viel Abstand zu ihr wie ein Apotheker zu einem nach Verwesung riechenden Kunden. Und weil er da oben keinen anderen Ausblick hatte als den auf ihr vernachlässigtes Zuhause, ärgerte er sich jeden Tag mehr über ihre Unordentlichkeit. Sie dagegen mied ihn, weil sie sich bereits schon durch seine sich nie verändernde Erscheinung gekränkt und gedemütigt fühlte. Das ging so weit, dass sie sich in manchen ihrer immer häufiger aufziehenden schwarzen Launen ausmalte, wie sie ihn am besten umbringen könnte. Es nützte in solchen Momenten wenig, dass ihre Eltern sie hoffnungsvoll nach der griechischen Friedensgöttin Irene benannt hatten.

"Ich finde, der Name Irene passt nicht zu dir", sagte Manfred, ein Freund, "Deine Eltern hätten dich Artemis nennen sollen."

"So heißt doch niemand. Artemis ist eine Göttin", lachte sie.

"Genau wie Eirene. Artemis ist die Beschützerin der Natur, und auch du liebst doch Tiere, Bäume und Blumen. Und ihr nehmt es beide sehr übel, wenn ein Mann es bei euch an Respekt und Anständigkeit fehlen lässt. Kennst du die Geschichte von Artemis und dem Jäger Alkaios?"

"Nein."

"Alkaios war ein Jäger, der in ein Tal eingedrungen ist, das der Artemis heilig und für Menschen verboten war. Er hat sie dort beobachtet, während sie in einer Grotte nackt badete, Sie bemerkte es und verwandelte ihn in einen Hirsch. So sorgte sie dafür, dass er von seinen eigenen Hunden zerfleischt wurde."

Als Manfred gegangen war, googelte Irene Artemis und Alkaios. Der war kein einfacher Jäger, sondern ein Königssohn. Irene fühlte sich an ähnliche Begebenheiten aus deutschen Märchen erinnert, nur wäre Artemis dort im Wald ein schutzloses Mädchen gewesen und der Königssohn hätte sie gefunden und glücklich gemacht. Nicht so in diesem griechischen Mythos. Artemis wartete nicht auf einen Märchenprinzen, sondern wollte von Männern in Ruhe gelassen werden.

Irene gefiel das. Sie dachte an Leonardo. Sie würde es zu verhindern wissen, dass der sie nackt sah. Aber war es nicht ebenso unverschämt von ihm, dass er ihr beim älter Werden zusah, während er selber sich der Vergänglichkeit so offensichtlich entzog?

Sie betrachtete sich im Spiegel an der Wand. "Schlimm, wie ich jeden Tag ein Stück weiter meinem Endzustand als Humus entgegengehe", murmelte sie. "Sollte dieser Scheißkerl etwa ungeschoren davonkommen? Wie ungerecht wäre das denn?"

Irene mochte Fleisch und Blut von Lämmern, die sie direkt von einem Schäfer in der Nähe bezog. Mit diesen jungen Tieren, dachte sie, würde sie Körperzellen zu sich nehmen, die noch auf einen jugendlichen Zustand hin programmiert waren und vielleicht dem Gen entgegenwirkten, das Frauen altern ließ. Besonders gern trank sie das noch warme Blut. Sobald der Schäfer das Lamm an den Hinterbeinen in die Höhe hob und ihm mit einem scharfen Messer die Kehle durchschnitt, stand sie mit einer Schüssel daneben und fing alles auf, was aus dem Hals herausspritzte.

Eines Tages, als Leonardo wieder einmal an ihr vorbeihasten wollte, stellte sie sich ihm in den Weg und fragte ihn: "Wie kommt es, dass du noch so frisch aussiehst, obwohl du doch sieben Jahre älter bist als ich?" Er überlegte kurz und sagte dann, nachdem er sich eine Atemschutzmaske aufgesetzt hatte:: "Einen Teil haben mir natürlich meine Eltern mitgegeben und den Rest habe ich selber hingekriegt."

Sie schaute unwirsch. "Ich pflege mich mit Anti-Aging-Creme und bade wie Kleopatra in Eselsmilch. Was machst du? Gehst du auch in Beauty-Shops? Oder in eine Muckibude?"

"Brauche ich nicht. Es reicht, einfach nur neugierig zu sein auf die Welt und die Menschen. Wenn ich die vielen Dinge mache, die mich interessieren, dann sind nicht nur meine grauen Zellen immer in Bewegung, sondern auch meine Beine. Fit bleiben ist wichtig, nicht stehen bleiben, dann wirst du nicht alt aussehen. Außerdem gesund essen und aufpassen, mit wem du dich abgibst. Junk Food macht deine Haut schlaff, Enttäuschungen ziehen dir die Mundwinkel nach unten und kratzen dir Falten in die Stirn. So, genug geredet. Lass mich vorbei!"

Sie blieb vor ihm stehen. "Nichts als platte Allerweltsweisheiten", ätzte sie, "wie sie in jeder Apothekerzeitung stehen. Pardon, nicht Apothekerzeitung, eher die Ratgeberecke von Frau Barbara in einem kostenlosen Wochenend-Blättchen."

"Und wenn schon!", sagte er, streckte eine Hand aus und wollte sie beiseite schieben. "Schließlich stimmt das alles. Willst du bloß nicht hören."

"Hände weg!", schrie sie. "Wag es nicht, mich anzufassen!"

Er zuckte zurück. "Schau nicht so mucksch!", sagte sie. "Setz dich lieber da rüber an den kleinen Tisch und schreibe. Dein Thema: `Was ich Mädchen und Frauen schon angetan habe.'"

Als er protestieren wollte, schnitt sie ihm das Wort ab: "Tu es einfach! Auf dem Tisch findest du Papier und einen Stift."

Er wirkte unschlüssig, schien zu überlegen, was er tun konnte, um aus der Sache rauszukommen. "Bewegung!", rief sie.

Als er am Tisch saß, nahm er den Stift und drehte ihn hin und her. Dann schrieb er. Bereits nach kurzer Zeit legte er den Stift weg und sagte:"So, fertig."

Sie kam, nahm das Blatt und da stand: "Ich bin nicht so einer. Du beschuldigst mich zu Unrecht."

"Auch noch verstockt", zischte sie. "Damit kommst du nicht davon." Doch bevor sie noch mehr sagen konnte, war er aufgesprungen, an ihr vorbei zur Treppe geeilt und in sein Zimmer geflüchtet. Und verschloss augenblicklich die Tür.

Allein zurückgeblieben, setzte sich Irene nun an ihren Computer. Zum Teufel mit Leonardo und seinen billigen Sprüchen! Es musste eine Müglichkeit geben, herauszufinden, warum sie alterte wie die meisten Menschen und er nicht. Bald fand sie eine passende Internetseite.

Es gebe eine ganze Reihe von Wissenschaftlern, erfuhr sie da,, die zu dem Thema forschten. Sie hätten schon Gene gefunden, die ihrer Meinung nach mit dem Altern zu tun hatten. Besonders eines interessierte sie. Sie nannten es MC1R. Wüssten sie erst einmal mehr darüber, konnten Menschen ewig leben.

Allerdings, so las sie, gehörte zum jung Bleiben mehr dazu als bloß ein Herumbasteln an Genen. Die Weißkittel schätzten, dass diese nur zu zehn bis fünfzehn Prozent für das Altern verantwortlich seien. Von großer Wichtigkeit sei die Art, wie der Einzelne lebe. Na gut, hatte Leonardo also doch nicht so ganz unrecht.

Entscheidend sei auch die Umwelt, Lärm, Stress, gute oder schlechte Luft und was da sonst noch alles dazugehöre. Irene hatte über die Jahre mehrmals Urlaub in einem italienischen Bergdorf gemacht, sich dabei auch einmal die Gräber auf dem Friedhof angeschaut. Von denen, die da lagen, war keine und keiner unter hundert Jahre alt gewesen. Diese Menschen mussten zwar auch arbeiten, jedoch in ihrem eigenen Rhythmus, konnten sich mehr Zeit lassen. Dazu die gute Luft, einfaches, aber gesundes Essen, eine Gemeinschaft, die ihnen Halt gab. Auch wenn an ihren Gesichtern die Jahre nicht spurlos vorüber gingen, diese Menschen blieben schön, vital und stark. Sie hüpften lieber mit den Jungen zu heißer Musik, statt in Fitnessstudios herumzuhängen. Irene hatte etliche solche Alte kennen gelernt, dachte zum Beispiel an Onorio, einen lebenslustigen Fünfundachtzigjährigen. Der war jedes Wochenende in Diskotheken gewesen, bis er eines Nachts auf der Tanzfläche tot umfiel mit Herzinfarkt.

Sie hatte viel mit den Leuten dort zusammengesessen und sich gewundert, dass die meisten pro Tag höchstens eine Tasse Kaffee tranken, ein einziges Tässchen Espresso, und den ganzen Abend über selten mehr als ein Glas Wein.

Süchtige altern schneller, las sie auf ihrer Website. Ja, wenn das stimmte, dann musste Leonardo bloß süchtig werden, dann würde er auch altern und es würde ihm so gehen wie den Säufern oder den Drogensüchtigen. Oder den Rauchern. Die machten sich zwar lustig über die Warnungen auf den Zigarettenpackungen, aber dann kriegten sie auf der kleinsten Steigung gleich keine Luft mehr oder jammerten über ihre graue, schlaffe Haut.

Und das Gute war: Süchtige würden nicht aufhören mit ihrer Sucht. Dabei waren sie einmal Kinder gewesen, die bloß aus Neugier eine Zigarette geraucht oder ein Glas Schnaps getrunken hatten, Damals war ihnen noch speiübel geworden. Und warum verbrannten sie jetzt abstoßend riechenden Tabak oder schluckten übel riechenden Schnaps? Irene kannte die Antworten. Beruhigt, entspannt, macht gute Laune. So redete auch sie manchmal selber, wenn sie trank oder rauchte.

Ja, Süchtige altern, murmelte sie. Und Leonardo hatte eine Strafe verdient. Aber wie konnte er süchtig gemacht werden? Der Kerl rauchte ja nicht und rührte keinen Alkohol an. Nach einer Weile hatte sie eine Idee. Wozu gab es Freunde? Sie rief Manfred an und der kam am nächsten Tag und brachte den Günter mit.

Die zwei, kräftige junge Burschen, setzten sich Atemschutzmasken auf und warteten auf Leonardo. Als der von seiner Arbeit nach Hause zurückkehrte, packten sie ihn gleich an den Armen, damit er sich nicht die Nase zuhalten konnte. Er versuchte daraufhin nicht zu atmen, wurde rot im Gesicht, dann blau. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, schnappte nach der stinkenden Luft und riss einen gewaltigen Schwall davon in seine Lungen.

Dann erging es ihm wie all den anderen, die beim ersten übel riechenden Glas Schnaps oder dem noch übler riechenden ersten Tabakqualm das Gesicht verziehen, irgendwann aber nach einem zweiten Glas greifen, nach der zweiten Zigarette, auf die eine dritte folgt, eine zehnte, zwanzigste, bis dieser Mensch, ohne es eigentlich zu wollen, in die Gemeinde der Süchtigen eingetreten ist.

Auch Leonardo schnitt zuerst eine angewiderte Grimasse. Mit der Zeit und mit jedem weiteren Atemzug jedoch entspannten sich allmählich seine Züge. Zuerst hatte er den Mund geschlossen und sich dann krampfhaft angestrengt, möglichst wenig Luft zu holen. Schon bald jedoch atmete er tief und regelmäßig, sog sich die Lungen gierig voll mit dem üblen Geruch, schaute ebenso losgelöst wie ein Raucher beim Genuss einer mindestens ebenso übel stinkenden Zigarette.

In den Tagen danach vollzog sich bei Leonardo eine erstaunliche Veränderung. Er hielt sich nicht mehr die Nase zu, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, und nicht nur das: Fast jede Stunde stellte er sich an seine Glasscheibe und schaute, was Irene machte. Wenn sie so aussah, als ob sie nichts gegen eine Pause hätte, kam er die Treppe herab, atmete tief ein und unterhielt sich angeregt zehn, fünfzehn Minuten lang mit ihr.

Sie hatte auf die Weise genügend Gelegenheit, ihn über längere Zeit genau zu betrachten, und schon nach wenigen Tagen meinte sie festzustellen, dass seine Gesichtshaut schlaffer wurde, fast unmerklich zunächst, doch ihrem aufmerksamen Auge entging das ebenso wenig wie ein Haar, das Leonardo ausgefallen war. Der Bann war gebrochen. Sie jubelte innerlich, doch ließ sie sich nichts anmerken, begegnete ihm weiter mit einer zurückhaltend freundlichen oder gleichmütigen Miene.

Irgendwann starben seine Eltern bei einem Autounfall und er erbte deren Haus, das in einer ruhigen Seitenstraße mitten in der Stadt lag. Seine Freunde und Bekannten fragten ihn, wann er dorthin umziehen würde und boten ihm ihre Hilfe an. "Nett von euch" sagte er. "Aber ich bleibe, wo ich bin. Mir gefällt es da." So kam es, dass er zum Unverständnis aller die Möglichkeit ausschlug, in einem der begehrtesten Stadtviertel zu wohnen, und es vorzog, weiter die Luft von Irenes stinkender Bude zu atmen.

In den Jahren, die er danach dort verbrachte, sagte er bei jeder Gelegenheit: "Bin nun endlich ein Teil der Schöpfung." Und es störte ihn nicht, dass er immer mehr Ähnlichkeit mit Irenes Blumen: bekam, Seine Haut wurde welk, seine Haare fielen aus und er wirkte immer mehr wie ein trockener Stengel. Irene empfand bei seinem Anblick keine Schadenfreude, sondern fast so etwas wie Rührung, fühlte sich jedenfalls ausgesöhnt und irgendwie getröstet.

Auch Leonardo ging es gut, denn als die Vergänglichkeit sich ihm näherte, spürte er viel stärker als früher, dass er lebte. Er musste an den Küchenjungen in Dornröschens Schloss denken, der nach hundert Jahren Schlaf vom Koch mit einer Ohrfeige geweckt wurde: Auch er, Leonardo, hatte sein Leben verschlafen, in einem langweiligen Büro, wo er immer nur langweilige Zahlenkolonnen abgearbeitet hatte. Auch er war nun aufgewacht und meinte die Welt und sich selber zum ersten Mal wirklich zu sehen. Erst jetzt erkannte er, wie viel Unentdecktes tatsächlich über viele Jahre in ihm geschlummert hatte und sah beglückt, wie sich unversehens etwas öffnete. Er griff zu Pinsel und Palette, wollte all das Neue unbedingt malen. So entstanden Gemälde von ganz eigenartigem Reiz, deren Schönheit erst durch ihre filigrane Hinfälligkeit hatte entstehen können.

Er malte nur für sich selber. Irene schaute verwundert zu und sagte, noch nie hätten Bilder sie so berührt. Sie drängte ihn, eine Ausstellung zu machen, aber er lächelte nur und sagte: "Nein, das werde ich nicht tun. Wenn Andere meine Bilder nicht sehen, wird der Welt nichts verloren gehen. Wenn ich sie aber ausstelle und womöglich verkaufe, verliere ich mich selbst. Das will ich nicht, denn es ist noch nicht lange her, dass ich mich überhaupt erst gefunden habe."

Copyright Peter Asmodai





























Koch was - aber viel davon



Eric S. saß vor seinem Monitor und schaute sich an, was er eben am Computer geschrieben hatte. Der Job war nicht berauschend und es gab lausig wenig Geld, doch konnte er in seinem Alter nichts Besseres mehr kriegen. "Fünfzig Jahre?" sagten sie und man sah ihnen an, dass sie dachten: "alter Knacker".

Er sollte einen angefangenen Text ausarbeiten, dem fast alles fehlte, und er sollte ihm Leben einhauchen, wie die Götter früherer Zeiten irgendwelchen Brocken Erde Leben eingehaucht hatten. "Ihr werdet sein wie Gott", fiel ihm noch ein und er murmelte den Satz vor sich hin. Das hatte eine Schlange gesagt, angeblich der Teufel. Zwar ging es hier nicht um Lehmklumpen, dafür aber um Erkenntnis und das Verspeisen einer besonderen Köstlichkeit. Daraus müsste sich etwas machen lassen, doch alles, was er im Augenblick zustande brachte, war dieser Befehlssatz für einen Küchenchef:

"Koch was - aber viel davon."

Es war eine gute Zeile, und sie war ihm einfach so gekommen, schon völlig druckreif und wäre auch gut gewesen als Aufhänger für einen Dialog - doch er wollte sie als Titel. Jetzt brauchte er bloß noch ein paar Sätze, die ein paar Leute sagten, und sowohl die Sätze wie die Leute mussten zum Titel passen. Nur leider fiel ihm nichts ein.

"Koch was - aber viel davon."

Das klang nach dem Brei, der für die ganze Stadt reichte, nach dem Schlaraffenland, nach Genüssen aller Art und alles im Überfluss. Sicher, nur leibliche Genüsse, doch das war ja nicht wenig. Er wünschte, er könnte sich jede solche Begierde erfüllen, und er wusste, viele Andere wünschten sich das auch und blieben doch fast immer meilenweit von der Straße entfernt, die ins Tal jener Lüste führte.

Auch Eric S. bekam viel zu oft nicht das, was er sich wünschte, und er musste sich dann mit Dingen abfinden, die er nie gewollt hatte und die er eigentlich nicht hätte akzeptieren dürfen und - aus Schwäche - doch akzeptierte. Die Jahre hatten sich davon geschlichen, er war älter geworden, und Andere begannen - wie er fast täglich feststellen musste - ihn wegen seines Alters immer dreister auszuzählen, und er schaffte es mit jedem Tag weniger, als der starke, junge und hinreißende Mann aufzutreten, der er, wie er dachte, einmal gewesen war.

Zwar spürte er mit Erleichterung, dass er immer noch halbwegs anziehend wirkte auf Frauen, aber etwas Besseres als eine eher flache Art von Befriedigung war da nicht. Es kam - von einer einzigen und nur ein paar Monate währenden Ausnahme abgesehen - nie zu den übers Land rasenden Zündfunken, die großartige Kanonenschüsse auslösten, einen unaufhörlichen Donner, der ihn - wie er es sich ersehnte - ins Allerinnerste traf, ihn fast vernichtete, immerhin nur fast, denn die völlige Vernichtung wäre auch das völlige Glück gewesen, und wer erträgt das schon?

Da ihm also keine passenden Textzeilen einfielen, bastelte er an einer Website herum, probierte mehrere Layout-Varianten aus. Für die Site hatte er genug Zeit, sie sollte erst am Ende der Woche fertig sein und jetzt war Dienstag. Früher war immer alles eilig gewesen, man hatte ihm jeden Entwurf aus der Hand gerissen, schnell, schnell, her damit, die Links werden schon gehen und der Rest auch. Jetzt ließ man ihn vor sich hin wursteln und niemand schien das, was er machte, allzu dringend zu brauchen. Wahrscheinlich erwartete keiner mehr irgendwas Großartiges von ihm und man ließ ihn eben in seiner Ecke verrotten statt ihn zu feuern, da die Ablöse teurer gekommen wäre als eine Weiterbeschäftigung bei dem lächerlichen Lohn, den man ihm zahlte. Er versuchte sich mit den anderen gut zu stellen und dachte, wenn ich friedlich bin, sind die es auch, und meistens funktionierte das. Die schneidende Herablassung war jedoch kaum zu übersehen, wenn einer bei ihm vorbeikam und einen Blick auf seinen Computerbildschirm warf.

"Hast du den Text fertig?" fragte Samuel, der sich Sam nennen ließ, ausgesprochen Sämm.

Sam war jung, dynamisch, hatte einen kahlrasierten Schädel und es war klar, dass er sich damit nach oben durchdrücken wollte in Richtung Chefetage. Obwohl - Kahlrasierte waren da oben eher selten, bisher jedenfalls, und bisweilen reichte es auch nicht, bloß einen harten Schädelknochen zu haben, man brauchte manchmal auch noch ein bisschen was innen drin.

"Das wird schon", sagte Eric S. Warum sollte er sich von dem Schnösel ausfragen lassen, der kaum halb so alt war wie er? Er versuchte, einen optimistischen Glanz in seinem Blick aufstrahlen zu lassen und sagte:

"Ich lass das kommen, Mann, ich lass das kommen."

"Dann frohes Schaffen", sagte Samuel und verzog sich.

Inzwischen war Mittagszeit. Früher hatte er in der Kantine immer bei der Geschäftsführung mit am Tisch gesessen, aber da war schon länger kein Platz mehr für ihn. Zwar gab man ihm keine bösen Worte, doch schob man ihn skrupellos mit einem unsichtbaren Ellbogen beiseite.

Notgedrungen setzte er sich also zu einigen Sekretärinnen. Besonders bei zweien von ihnen verging ihm manchmal der Appetit, wenn er sich die beim Essen ansehen musste und wie heftig geschminkt die waren oder was für tief ausgeschnittene Blusen die anhatten. Grässlich! Und dieses ewige dumme und oft niederträchtige Geschwätz!

Bei aller Abneigung versuchte er im Gespräch höflich zu bleiben, doch gelang ihm das nicht immer und natürlich entging besonders den zwei Schlampen nicht die Verachtung und der Ekel in seinem Blick und seiner Stimme, und unter der dünnen zivilisierten Oberflächenschicht wuchs auf beiden Seiten krebsgeschwürartig der Hass. Und weil die Schlampen den Hass zu brauchen schienen, saßen sie unfehlbar jeden Tag an seinem Tisch.

Und sie beschwerten sich irgendwann über die Frauenfeindlichkeit von Eric S., und die Geschäftsleitung nahm ihn nicht in Schutz.

So redete er also an einem Tag wie immer irgendwelchen Mist mit den Sekretärinnen. Da griff eine in ihre Handtasche und händigte ihm einen Brief aus. "Von der Firmenleitung", sagte sie. Eric S. riss ihn auf und er sah, es war eine Abmahnung.

Ihm war schlecht. Er ließ seinen noch fast vollen Teller stehen und ging Richtung Toilette. Als er zurückkam, hatte sich die Kantine geleert, nur ein paar wenige Leute saßen herum und sieh an, sein Teller stand auch noch da. Eric S. griff nach Messer und Gabel und machte sich mit wütender Entschlossenheit über das kalt gewordene Essen her. Eine der ekligen Sekretärinnen war am Tisch sitzen geblieben und beobachtete ihn. Als sie sah, dass ihm nach einer Weile die Augen zufielen, sagte sie in neckischem Ton: "Ich werde Ihnen ein Geheimnis enthüllen: Ich habe was unter die Nudeln gemischt."

Das war das letzte, was Eric S. hörte, dann legte er seinen Kopf auf den Tisch und wurde so vom Küchenpersonal gefunden, das die übrigen Teller von den Tischen räumte.



Copyright Peter Asmodai




























Die Verführung der Nicoletta M.



Nicoletta hatte für Richard schon fast jedes Geheimnis verloren, als sie neben ihm im Kino saß und er ihr seine Hand aufs Knie legte und langsam unter ihr Kleid schob.

"Nein", sagte sie, und er fand sie auch hier gewöhnlich und allzu vorhersehbar, als sie nichts weiter sagte, sondern ihre Hand auf seine packte und ihre Finger zusammenzog, als sollten sie eine Gabel halten. Immer dieselbe Bewegung der Finger. Er hatte das bereits bei ihr gesehen, als er sie ein paar Stunden davor kennen lernte, oder eigentlich war es eher so gewesen, dass sie sich ihm aufdrängte. Auf der Auer Dult, dem Markt wenige Busminuten vom Rathaus entfernt, hatte sie auf den freien Platz neben ihm gezeigt und ihren Teller mit Schupfnudeln und Sauerkraut auf dem Tisch abgestellt, als er nicht protestierte.

Sie hatte ihn angeschaut und "Was essen Sie da?" gefragt. Er meinte einen italienischen Akzent heraus zu hören.

"Ich glaube nicht, dass wir zusammenpassen", hatte er geantwortet, "Dies ist Crêpe mit Cointreau. Ich liebe es französisch."

Und das hatte er beileibe nicht nur so dahin gesagt. Er mochte Frankreich sehr und er hatte Französinnen gekannt, oh la la!

Und jetzt saß er neben dieser Nicoletta im Kino und es ging - im Film - einmal wieder um das Ende der Welt. Dass dieses bald eintreten würde, nahm er inzwischen fast hin, wie man jedes Sterben hinnimmt, so wie das eigene, als unvermeidlich, na ja, nicht ganz ungerührt, irgendwie betroffen ist auch der Stumpfste von uns, selbst der Hirnlose im SUV, dem riesigen Geländefahrzeug, das die Erdölvorräte dieser Welt schneller verschluckt als jeder Alkoholiker sein Bier oder seinen Schnaps - aber dass sie Schupfnudeln mit Sauerkraut aß, das drückte doch irgendwie unbehaglich gegen seine Magengrube, und dies noch mehr, als sie ihm bestätigte, dass sie Italienerin war. Wäre sie eine Nigerianerin gewesen, die Schupfnudeln mit Sauerkraut aß, hätte ihn das vermutlich weniger gestört. Aber Italienerin, das bedeutete für ihn - nach einigen Erfahrungen, die ihn jetzt ganz sicher zu einem einseitigen, grobschlächtigen und ungerechten Urteil verleiteten - nichts anderes als ein Mann-Frau-Verhältnis der wechselseitigen Sklaverei, ein weiblicher Würgegriff mit rachsüchtigem und erstickendem Sich-Festklammern am Männchen, dem das Weibchen - bevölkerungsstatistisch gesehen vermutlich zu Recht - Untreue unterstellte, außerdem verband er mit Italienerinnen ein haltloses, nervtötendes, schrilles Lamentieren und eine ewige Unpünktlichkeit in jeder Hinsicht und das Verpassen von fast allem, was ihm wichtig war.

Und da für Italiener und -innen ein Abweichen von Pasta und Co. nicht üblich war, musste einem diese Frau, die sich daran machte, Schupfnudeln mit Sauerkraut zu essen, mehr als alarmierend erscheinen. Es war beileibe nicht so, dass er Italienerinnen hasste, ganz im Gegenteil, er hatte in Italien wunderbare Menschen getroffen, auch wunderbare Frauen, und doch war seine Meinung speziell über letztere desto positiver gewesen, je weniger erotisch-sexuelle Interessen eine Rolle spielten. Wenn einer seiner Freunde oder Bekannten sich auf eine Italienerin einließ und es entstand eine glückliche und befriedigende Beziehung, fand er das natürlich gut, doch wenn einer mit einer solchen Frau in Schwierigkeiten geriet, bedauerte er ihn eigentlich nicht - schließlich ist jeder für sich selber verantwortlich - und er konnte sich im Zweifelsfall ein heimliches Grinsen nicht verkneifen, jedenfalls dann, wenn ihm dieser Mensch nicht sonderlich sympathisch erschien.

Das einzige Geheimnis, das ihm bis jetzt von Nicoletta geblieben war, war ihre stillschweigende und zwar ein wenig ratlose, aber beharrliche Hingabe an das Nichts, das sie ihr Leben nannte.

"E che farai domani?" fragte er - Und was machst du morgen? - als sie aus dem Kino kamen. Er redete einfach nur, um kein Schweigen entstehen zu lassen.

"Niente", sagte sie, nichts, erstaunlich wenig verlegen um Wörter, selbst um solche nicht, die verräterisch und peinlich waren. "Wir könnten uns im Weißen Bräuhaus im Tal treffen, sonst kenne ich bisher keine Lokale in München. Um sieben?"

Er zögerte. "Sieben geht nicht. Um acht", meinte er dann. Ihm war halb schlecht, doch dann erinnerte er sich daran, wie rund und schön ihre Arme und Schenkel sich angefühlt hatten. Dies durfte noch nicht das Ende sein. "Ich werde kommen", sagte er, und er hatte mehr als eine Bedeutung dieses Satzes im Kopf, als er nach Hause fuhr. Wunschdenken der Männer!

Am Biertisch im Bräuhaus erzählte sie ihm dann, dass sie die Beste ihrer Klasse gewesen sei, aber nicht studieren konnte, weil ihre Eltern kein Geld hatten. Diese Geschichte hatte er schon zu oft gehört, als dass sie ihn noch hätte beeindrucken können. Wenn sie sich schon nicht um ein Stipendium bewerben konnte oder wollte, warum suchte die Frau sich dann keine Arbeit und sparte Geld? Er selber hatte immer gearbeitet, auch noch während des Studiums, als Lieferwagenfahrer, oder er hatte Privatwohnungen renoviert, dafür sogar Samstagabende und Sonntage geopfert. Seine Examen hatte er trotzdem nach dem absoluten Minimum an Semestern geschafft und gelebt hatte er auch. Wer wirklich studieren wollte, konnte das hinkriegen.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte sie. "Ich arbeite schon jahrelang, aber ich konnte fast nichts sparen. Ich wohne nicht in einer Stadt wie München, wo es viele Möglichkeiten gibt, sondern auf dem Land in Mittelitalien. Für eine Ungelernte ist es dort schwer, eine Stelle zu bekommen, und wer eine findet, verdient sehr viel weniger als in Deutschland. Und dies Wenige ist bisher fast komplett für meine Wohnung draufgegangen. Ich suche jetzt gerade etwas Kleineres, Billigeres."

"Leben deine Eltern noch?" fragte er.

"Ja. Aber ich will mit meinen dreißig Jahren nicht mehr bei ihnen wohnen. Ich bin schon mit 18 ausgezogen."

Er wusste, dass das ungewöhnlich, fast ungeheuerlich war für italienische Verhältnisse. Die meisten jungen Leute des Belpaese hatten es nicht eilig, aus dem warmen elterlichen Nest zu flüchten, fanden es völlig normal, bis dreißig oder länger dort wohnen zu bleiben. Nicoletta wollte ihm also sagen, dass sie nicht nur eine kluge, sondern auch eine unabhängige, starke junge Frau war. Aber auch dieses Lied beeindruckte ihn nur wenig. Er war, in Deutschland, selbstverständlich bereits mit 18 zu Hause ausgezogen, inzwischen gerade mal 30 Jahre alt, stand auf eigenen Füßen und dazu gehörte es auch, dass er die Miete für ein - wenn auch kleines - Appartement der Münchner Innenstadt selbst bezahlte. Er war immer bereit zu arbeiten und Opfer zu bringen für die Aussicht, damit eine gefühlte Unabhängigkeit zu erreichen, und so wie er dachten auch seine Freunde.

Am Sonntag hatte er sie kennen gelernt und, wenn das stimmte, was sie ihm erzählte, war sie noch immer sozusagen Jungfrau, das heißt, in München bisher ungevögelt geblieben, und das nach fast zwei Wochen in dieser Stadt, die zupackend ist und ausschweifend und nach allem greift, das schön und verlangend daherkommt. Er liebte München und hatte Sympathie für diejenigen, die sich in den weitgespannten und gelegentlich fast unsichtbaren Netzen hier verfingen. Er verfing sich selber gern und verstand alle, denen es ähnlich ging.

Als er Nicoletta später in Italien wiedersah, wirkte sie deutlich älter und verbrauchter - wie eine Frau nach zwei Kindern, zu viel Sonne und reichlich Lethargie. Dabei hatte sie gar keine Kinder, mied im ewigen Schatten ihrer Wohnung hinter den immer geschlossenen Lamellen-Fensterläden das helle Licht des Tages, und da schien es keinen Grund zu geben, dass sie so auffällig alterte - außer vielleicht, dass sie ganz einfach an der Luft trocknete wie Parma-Schinken. Hatte er noch Lust, sie zu vögeln, so wie sie jetzt aussah? Er drückte sich um eine wirkliche Antwort und versuchte einfach nur bella figura zu machen, das heißt, möglichst nur angenehm aufzufallen in dem an ihm vorbei strudelnden italienischen Leben.

Doch wollen wir nicht vorgreifen. Noch sind wir in München und er schleicht um sie herum. Sie schien es übrigens kaum erwarten zu können, ihn zu treffen - einmal rief sie ihn sogar bei der Arbeit an, was ihm alberne Bemerkungen der versammelten Kollegen einbrachte - und am Abend ließ sie sich gern von ihm nach Hause bringen, doch dann schickte sie ihn an der Haustür weg.

Irgendwann lud er sie zum Essen ein, zu ihm nach Hause. Ein sehr einfaches italienisches Essen, aber aus allerbesten, ganz frischen Zutaten. Sie aß, lobte ihn, trank Wein dazu, am Ende auch einen Limoncello, den Zitronenlikör, und ließ sich dann die Bluse und den BH ausziehen. Ihm wurde heiß und eng, als er mit der Zunge über ihre Brüste fuhr, die rund und süß und für jemand so Filigranen wie sie geradezu unverschämt groß und schwer waren. Als seine Finger weiter wollten, hielt sie ihn jedoch schon wieder auf.

"Nein, das will ich nicht", sagte sie.

"Erst nach der Heirat?" fragte er zurück.

"Blödmann!" versetzte sie. "Auch wir Italienerinnen leben in Europa. Aber ihr Männer sollt uns respektieren. Und du wirst warten müssen, bis ich will."

"Kein Wunder sind eure Männer so scharf auf die Touristinnen."

"Kann schon sein, dass die anders sind als ich. Aber das interessiert mich nicht. Ich bin keine Nutte."

Das war hart. Ungerecht. Schrie zum Himmel.

"Dabei hast du so feine Wäsche", sagte er. "Eine so zarte Schrift. Kennst alle Geschmacksnuancen von der Erde bis zum Himmel. Warum also trittst du um dich wie ein Maultier?"

"Ich stehe nicht auf Komplimente", sagte sie, und sie wusste, dass sie log - da war er sicher. "Und warum soll ich nicht sagen, was ich denke? Dein Problem, wenn du das nicht verträgst."

Am folgenden Tag war sie wieder bei ihm. Er durfte ihr nicht nur die Bluse, sondern auch die Hose ausziehen, ihre Beine küssen von den Zehen bis zu den Oberschenkeln. Aber bevor es weiter gehen konnte, waren da wieder ihre Finger, die ihn stoppten.

"Ja, ich weiß", sagte er. "Respekt. Und Respekt bedeutet Warten."

Er zog sie wieder an: Ihren BH, die Bluse, die Hose.

"Was machst du?" fragte sie.

"Wir warten", entgegnete er.

"So habe ich das nicht gemeint", wandte sie ein.

"Aber ich", versetzte er. "Zieh deinen Mantel an und geh nach Hause."

"Bist du jetzt beleidigt?"

"Kann schon sein, aber ist das nicht egal? Schließlich bist du keine Nutte, oder?"

"Du willst mich nicht verstehen."

"Nein. Und nun zieh deinen Mantel an und geh!"

Da stellte sie sich vor ihn hin, knöpfte sich ihre Bluse und die Hose auf und schleuderte beide auf den Stuhl. Den BH warf sie hinterher. Dann legte sie sich auf das Bett, hob ein wenig den Hintern und zog sich den Slip aus.

Am folgenden Morgen stand er früh auf und holte Brötchen. Die Straßen leuchteten strahlend hell, obwohl sie voller Schneematsch, Hundekot und Pfützen waren. Es war kalt und feucht und scheußlich, aber er fühlte sich unglaublich gut.

Nach zwei weiteren Morgen mit frischen, verführerischen, himmlisch schmeckenden Vollkornbrötchen fuhr sie nach Italien zurück.

"Ich werde an dich denken", sagte sie, "und an den Duft und das Leben dieser Stadt."

Er widersprach ihr nicht, winkte ihr nach, bis der Zug in der Ferne verschwand. Sie war eine wundervolle Frau, doch irgendwie schien es da ein Gesetz zu geben: Je weiter sie sich von ihm entfernte, desto mehr strömte verloren Geglaubtes wieder in ihn selber zurück.

Er ließ in der folgenden Zeit ihre Karten unbeantwortet, ihre Briefe öffnete er nicht. Keineswegs aus Bosheit oder Desinteresse. Es war einfach sein Wunsch, etwas zu bewahren, das durch zu viel Kontakt mit Luft und Licht und Lesen und auf den Wegen der Post womöglich für immer zerstört werden konnte und für das es - wie er dann merkte - doch keinen Ort gab, wo es wirklich sicher aufgehoben war, und er musste beklommen zusehen, wie das alles unterging in einer bis zum Herzen steigenden ungeheuerlichen Flut, die neu und unerwartet aus ihm selber hochwirbelte.

Er griff nach dem Tischkalender, den er als eine Art Tagebuch benutzte, schrieb eigentlich nichts, bloß ein paar - fast unleserliche - Krakel. Es kam nicht darauf an. Das Untergegangene würde er, wenn er sich richtig verstand, in eine dankbare Erinnerungsecke des Kalenders und - ja! - auch seines Körpers verschieben, aber keinesfalls wirklich retten können, dafür schritt das Leben zu machtvoll voran. Aber irgendetwas w%uuml;rde bleiben von Nicoletta und wäre es auch nur dieser Duft nach frischem Oregano, den sie verbreitet hatte, wohin immer sie auch ging.


Copyright © Peter Asmodai





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Zwerghamster



Es war Sonntag und ich stand vor einem Gehege im Tierpark, na ja, keinem Gehege, sondern vor etwas, das höchstens zwei Quadratmeter groß war, winzig, eher ein Käfig, nach oben hin offen, und darin gab es nichts zu sehen außer einem Holzverschlag, der leicht nach Tier zu riechen schien. Sicher konnte man allerdings nicht sein. In einem Zoo mischen sich Hunderte von Gerüchen.

"Zwerghamster" las ich auf dem Schild und ich wunderte mich, wie man auf die Idee kommen konnte, dem Publikum so ein Tier zu zeigen, falls es sich überhaupt jemals sehen ließ. Einen Hamster hatten zahllose Kinder als Haustier. Und eine möglichst kleine Sorte, denn in dieser Stadt lebten Viele in engen Wohnungen.

Aber egal: Hier gab es also einen Zwerghamster? Warum zeigte der sich nicht?

Ein Mann stellte sich neben mich. Ich hasse es, wenn mir fremde Menschen zu dicht auf den Leib rücken und trat einen Schritt zur Seite.

"Keine Angst", sagte er. "Ich tue Ihnen nichts", und gleich stand er wieder nur zwei, drei Millimeter neben meinem rechten Arm.

"Phodopus roborovskii, der Roborowski-Zwerghamster", verkündete er mit einer Stimme, die sich anhörte, als ob er so Entscheidendes mitzuteilen hätte wie die Entdeckung einer neuen Welt. "Länge etwa zehn Zentimeter plus drei Zentimeter Schwanz, 30 bis 38 Gramm Gewicht."

"Ich sehe gar nichts", sagte ich und schaute auf den Holzverschlag ziemlich weit hinten in diesem Käfig oder Minigehege. "Verstecken sich wahrscheinlich", mutmaßte ich. "Und Sie? Sie sind wohl öfter hier?"

"Ja", sagte der Mann. "Komme jeden Tag in den Tierpark. Aber die Löwen und die Zebras interessieren mich nicht, nur der Phodopus roborovskii."

Ich muss ihn wohl ziemlich verwirrt angeschaut haben, denn er meinte: "Wir sollten uns nicht zu viel vornehmen, nicht das Ganze oder sowas. Reicht schon der Phodopus roborovskii und selbst den können wir kaum verstehen, wenn überhaupt etwas. Beobachten Sie eine Bakterie hundert Jahre lang und Sie werden trotzdem fast nichts über sie wissen. Und dabei ist eine Bakterie nur so groß wie eine Nadelspitze und sehr simpel im Vergleich zum Phodopus roborovskii."

Der Mann ist verrückt, dachte ich. Unsere Wissenschaft. Hunderttausende, Millionen von Experimenten, wissenschaftliche Beobachtungen und Schlussfolgerungen. Abermillionen von Büchern. Das ist doch gewaltig wie die Pyramiden, mehr noch, überragt sie bis in die Unendlichkeit.

Und dann kommt so ein Klugscheißer daher, ein armseliger Kerl, ein Nichtswisser und will mich belehren. Warum werfen sie den nicht raus? Wer braucht so einen? Unsere Mühlen werden sich auch ohne ihn weiterdrehen.

"Haben Sie schon einen dieser Zwerghamster gesehen?" fragte ich.

"Nein, eigentlich nicht", meinte er. "Falls einer mal draußen sein sollte, hört er ja einen Menschenschritt von weitem und verkriecht sich gleich in sein Hamsterhaus."

"Also kommen Sie jeden Tag hierher, um ihren Phodopus roborovskii zu studieren und haben ihn noch nie gesehen?"

"So stimmt das natürlich nicht", versetzte er. "Wenn Sie lange genug hier stehen bleiben, streckt er vielleicht irgendwann seine rosa Nase aus dem Verschlag, weil er Sie wittern will, und wenn Sie großes Glück haben, später auch den halben oder ganzen Kopf mit den schwarzen Knopfaugen."

"Und schaut Sie an?" Das sagte ich eigentlich bloß, um nicht unhöflich zu sein.

"Schon möglich", sinnierte er. "Ein Raubvogel hat scharfe Augen, er nicht. Verlässt sich eher auf die feine Nase und sein Gehör. Ja, vielleicht will er nur die Ohren nach vorn schieben, aber der möchte am Tag sowieso eher seine Ruhe haben. Nachts zeigt er sich wahrscheinlich ganz, denn er ist ein nachtaktives Tier, nur leider ist dann der Zoo geschlossen."

"Und um die rosa Nase und die Ohren zu sehen, kommen Sie so oft hierher?"

"Ja, irgendwie füllt mich das aus. Was tun Sie Sinnvolles während der Woche?"

Arbeiten, denke ich, essen, trinken, einkaufen, manchmal eine Nacht mit einer Frau. Aber Sinnvolles?

"Ach", antworte ich. "Wenn ich es mir recht überlege: Vielleicht möchte ich ja, wie Sie, nur eine rosa Nase entdecken und Ohren, die etwas von der Welt aufnehmen. Wollen wir uns wieder treffen, sobald ich angekommen bin? Ich gebe dann ein Bier aus oder, egal, auch eine Flasche Prosecco."

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In den Fluren die Nacht



Es war früh am Morgen nach einer dieser nicht enden wollenden frostigen Nächte und Alf - noch halb im Schlaf - auf einem langen Korridor unterwegs, als er hinter sich das Platschen von Wasser hörte. Er drehte sich um und sah einen hageren Mann im schwar- zen Overall und hüfthohen Stiefeln, der, eine Anzahl von Eimern neben sich, nach diesen griff und mit weitem Schwung einen nach dem anderen ausschüttete.

"Hören Sie auf!", wollte Alf sagen, brachte jedoch nur ein heise- res Krächzen hervor wie eine Krähe. Seine Stimme musste sehr unter der Nachtkälte und der Nässe gelitten haben.

Beschämt drehte er sich halb weg und sah aus dem Augenwin-kel, wie der Mann nach einem Schrubber griff. Dessen langen Stiel führte er erstaunlich leicht - wie einen Taktstock, dachte Alf - und das Wasser stieg jetzt an unter dem Schlag dieses Takt- stocks und flutete auf Alf zu wie der Schwall von Tönen eines kraftvoll einsetzenden Orchesters.

Alf, der soeben noch munter ausgeschritten war, blieb verwirrt stehen, blickte den endlosen Korridor entlang und wusste nicht, in was für einem Gebäude er sich befand und was er hier über- haupt wollte. Seine Verwirrung begann ihn zu drücken wie ein Leben, das man viel zu viele Jahre lang geführt hat und das einem unversehens fremd und geisterhaft erscheint.

Und jetzt schwappte nicht nur diese Flut auf dem Korridor, son- dern draußen vor den Fenstern brach mit Blitz und Donner ein Unwetter los, als sei dies das Ende der Welt. Oder der Beginn von etwas Neuem, dachte Alf, denn er verdankte sein Leben einem Gewitter.

Seine Mutter hatte, so erzählte man es ihm, als Zwanzigjährige in einem Hotel am Meer Urlaub gemacht, als spät nachts einer die- ser fürchterlichen Stürme tobte und die junge Frau mit gewal-tigen Blitzen derart in Panik versetzte, dass sie hinausrannte in den Korridor und so lange an Klinken rättelte, bis sie eine offene Tür fand. Sie trat ein, machte kurz Licht, sah einen ihr unbekann- ten Mann und schlüpfte, ohne sich lange zu bedenken, zu ihm ins Bett. Neun Monate später kam Alf auf die Welt. Niemand konnte ihm seither die Frage beantworten, wer sein Vater war; denn dieser war am Morgen abgereist und alle Nachforschungen waren ergebnislos geblieben. Der Mann hatte unter falschem Namen eingecheckt - vielleicht auf Grund einer Vorahnung, denn wie leicht konnte man in einem Hotel Vater werden, ohne es zu wollen.

"Bewegen Sie sich!", schrie jetzt der Korridorputzer. "Wenn Sie bloß rumstehen und blöd gucken, wird nie was aus Ihnen."

Was aus ihm wurde oder nicht , ging den doch nichts an. Wieder so ein penetranter Mensch, der angeblich wollte, dass aus Alf etwas wurde. Die hatten selber nichts Vorzeigbares zuwege gebracht, hatten es nicht geschafft, ihre Träume zu verwirk- lichen. Bestimmt wäre auch dieser Kerl wahnsinnig gern etwas Großes geworden, ein berühmter Sänger, Forscher oder Heerführer. Stattdessen putzte er jetzt den Dreck anderer Leute weg und belästigte seine Mitmenschen.

In diesem Moment dirigierte er eine tsunamiartige Überschwemmung auf Alf zu, drängte ihn damit vorwärts. Alf hatte aber keine Lust, weiter diesem Korridor zu folgen, denn er wusste nicht, wo der hinführte. Er wollte zurück, aber von dort strömte die Flut und da stand der Putzer und versperrte ihm den Weg.

Alf machte es wie damals seine Mutter: Er rüttelte an den Klinken links und rechts, bis er eine Tür fand, die sich öffnete. Man schien die Launen des Putzers zu kennen, denn die Türschwelle war als Sperre gegen das Wasser gut einen halben Meter hoch, so dass Alf den Fuß scharf in die Höhe heben musste, um darüber zu steigen.

Er hatte seine Mutter im Alter von fünf Jahren verloren, und wieder war ein Gewitter im Spiel. Sie badete in einem See und dort erschlug sie der Blitz. Alf wuchs danach bei einem Onkel auf, dem Besitzer einer Kette von exklusiven Modegeschäften, der schon in seinen Dreißigern Witwer wurde, als seine Frau, eine reiche Ungarin, an Tuberkulose starb. Alf vergötterte diesen Onkel und nahm sich vor, ebenso wie dieser ein Witwer zu werden. Ihm gefiel es, wie die Angestell- ten über die vielen Frauen redeten, mit denen der Onkel seine Nächte verbrachte, und er sog begierig alles auf, was dieser ihm über Liebesdinge erzählte.

Seine erste Freundin hieß Liliana und war fünfzehn, er ein paar Monate älter. Sie setzten sich beide für das Leben auf diesem Planeten ein, beteiligten sich an Aktionen zur Rettung von Insekten und überhaupt aller Tiere, diskutierten über Mahatma Gandhi und Hegel. Das Geistige und das Körperliche fanden bei ihnen auf eine so unerhört intensive Art zusammen, dass seine Gedanken durch ihre und ihre Gedanken durch seine fluteten. Die beiden verliebten sich wahnsinnig, doch zu mehr als zwar gierigen, aber unbeholfenen Berührungen mit der Hand kam es nicht und ihre Annäherungen erlebten ein brüskes Ende, als Lilianas Vater in einer weit entfernten Stadt eine neue Stelle angeboten bekam und die Familie wegzog.

Jeder Abschied ist ein kleiner Tod, hatte Alf irgendwo gehört, doch dieser Abschied war kein kleiner Tod, sondern ein überaus großer, der ihn zum Witwer machte, jedoch nicht zu einem leicht- lebigen wie den Onkel, sondern zu einem schwer Getroffenen, der sich unfähig fühlte für andere Liebesregungen. Dieser Zu- stand veränderte sich nie wirklich. Zwar trieb ihn über die Jahre ein schmähliches Verlangen seines Körpers immer wieder in die Arme eines Mädchens oder einer Frau, doch vermisste er bei ihnen allen stets schmerzlich eine Begegnung, die seine Seele berührte wie damals die Zeit mit Liliana.

Und jetzt stand er da mit nassen Füßen in diesem Korridor, wo sich nach angestrengter Suche endlich eine Tür geöffnet hatte. Er überstieg die hohe Schwelle. Der Raum, in den er gelangte, hatte nur ein Fenster mit verschlossenen Fensterläden, zwischen deren Lamellen bloß wenig Licht hereindrang. Er machte ein paar Schritte in der Absicht, die Fensterläden zu öffnen, um besser sehen zu können, wo er war, entdeckte dann aber, dass vor der Scheibe senkrechte Gitterstäbe eingesetzt waren, die ein Bewegen der Läden und wohl auch das Öffnen des Fensters unmöglich machen würden. Da hörte er hinter sich ein leises Klacken. Sofort wandte er sich um, sah, dass die Tür zugefallen war, ging hin, drückte die Klinke und stellte fest, dass er eine mächtige Stahltör vor sich hatte, die auf sein Rütteln nicht im Geringsten reagierte. Er war eingeschlossen, ein Gefangener in einer vergitterten Kammer Wie war er überhaupt in dieses Gebäude hineingeraten?

Der Raum war zuerst totenstill, nach einer Weile vernahm Alf je- doch über sich ein sehr leises Kratzen oder Schaben. Gab es hier Käfer oder andere Insekten? Kamen vielleicht Hornissen in der Nacht heraus, um ihn zu stechen?

Würde er eine Möglichkeit finden, aus diesem Gefängnis auszubrechen? Er trug stets ein Schweizer Taschenmesser bei sich, zu dem außer scharfen Klingen auch eine kleine Säge gehörte. Damit würde er allerdings gegen die solide Stahltür und die dicken Gitterstäbe am Fenster nichts ausrichten können. Er schlug mit der Faust rundum an die Wände und auch auf den Fu&szlid;boden. Die hörten sich an keiner Stelle hohl an, doch boten sie wahrscheinlich die einzige Chance, wie er seinem Gefängnis entrinnen konnte. Sehr lange würde er kratzen und schaben müssen, bis ein Loch entstand, welches groß genug war, dass er durchschlüpfen konnte, und selbst wenn ihm das gelänge: Was würde ihn hinter der Mauer erwarten?

Darüber mochte er sich im Augenblick keine Gedanken machen. Er brauchte erst einmal Ruhe. Die bisherigen Ereignisse des Tages hatten ihn so erschöpft, dass er erleichtert aufatmete, als er in dem halbdunklen Raum einen Tisch und einen Stuhl entdeckte. Er setzte sich auch gleich, legte seinen Kopf auf den Tisch und schlief ein.

In dem Traum, der nun folgte, begegneten ihm Liliana und seine Mutter. Traurig blickte diese ihn an und sagte: "Ich habe dir das Leben geschenkt, unter Schmerzen. Auch dieses Mädchen hier hat alles für dich getan, hat keine Mühe gescheut, dir einen Weg zu dir selber gezeigt. Und was hast du daraus gemacht? Du hast dich davontreiben lassen, hast dich mit einem hundsgewöhnlichen Leben zufrieden gegeben, das kein Leben mehr ist." Dann griff sie in ihre Tasche, holte etwas heraus und drückte es Alf in die Hand. Es war flach, rechteckig, eine Spielkarte, aber ziemlich groß. Tarot, dachte er, und war schon darauf gefasst, den Nar- ren, den Eremiten, den Tod oder eine andere Figur abgebildet zu sehen. Doch da war nur eine Landschaft mit einem Weg, der sich verzweigte und wieder verzweigte. Sie zog noch mehr Karten aus ihrer Tasche, jede zeigte offenbar einen weiteren Abschnitt des Weges, der sich immer weiter verzweigte und schließlich in ein stattliches Gebäude führte. Auf der folgenden Karte sah man einen Korridor, auf der nächsten eine Kammer mit einer Stahltür, dann ein vergittertes Fenster, endlich einen Stuhl, auf dem je- mand saß, und Alf ließ vor Schreck die Karten fallen, als er in der Gestalt sich selbst erkannte.

"Du wirst das, was Liliana und ich schon gemacht haben, wiederholen müssen: dich zur Welt bringen, und die Schmerzen werden diesmal deine Schmerzen sein."

Als er schließlich aufwachte, klammerte er sich verzweifelt an die Erwartung, dass alles nur ein Traum gewesen war: der Korridor, die Kammer, in der er gefangen saß und natärlich auch die Begegnung mit Liliana und seiner Mutter. Letztere war vom Blitz erschlagen worden, Liliana in einem fernen Land verschwunden, und warum sollte er in einem solchen Verlies gefangen sein? Er hatte ja keinem etwas getan, und er lebte in einem Land, wo niemand einfach eingesperrt wurde.

Während er sich die Augen rieb, vernahm er ein lauter gewordenes Kratzen oder Schaben - das waren ganz sicher keine Insekten, eher Fledermäuse oder ein Marder - und er sah einen Raum im Dämmerlicht, Lichtschlitze zwischen Lamellen und dicke Gitterstäbe am Fenster. "Also doch nicht nur ein Traum", stöhnte er, schlug ein paarmal seinen Kopf auf den Tisch wie einer, den aller Mut verlassen hat.

Er stellte sich vor, dass er nun Wochen, Monate, Jahre in diesem Verlies bleiben müsste, in beklemmender Eintönigkeit, mit keiner Abwechslung als dem schwappenden Geräusch, das ein Wä:rter mit seinen Hüftstiefeln oder seinem Boot machte, der Mann, welcher ihm einmal am Tag Brot und einen Teller mit dünner Suppe durch eine Luke in der Stahltür schieben würde. Oder, schlimmer, ihn abholte zum Verhör und zur Folter. Viele ungeheuer lange Tage wörde er hier verbringen, von einer unbekannten Faust gezwungen, über das Leben nachzudenken, das ihm die letzten Jahre Stück für Stäck entglitten war. Auch seine Gedanken schwammen jetzt davon, drehten sich in Wirbeln und immer im Kreis, wie Papierfetzen, die in den Strudeln eines Abwasserkanals untergehen.

An einem Abend - War es der dritte? War es der sechste? Er hatte aufgehört zu zählen - hörte er, wie das Kratzen und Schaben von Schlägen begleitet wurde. Was war da? Ganz bestimmt nicht bloß Fledermäuse oder ein Marder. Die Geräusche waren mittlerweile so aufdringlich geworden, dass er Mühe hatte, einzuschlafen.

Am nächsten Morgen sah er in der Zimmerdecke ein Loch, aus dem Bauschutt rieselte und durch das sich mehrere Male ein dicker Eisenhaken schob. Das Loch wuchs und wuchs und Alf wich zurück, als in der Öffnung schließlich ein Kopf erschien, das abgezehrte Gesicht und das zerzauste Haar von Kalk und Zement grau-weiß gepudert. Der Eindringling schaute nur kurz, verschwand dann und da war wieder dieses Schrappen, Kratzen und Schlagen. Auch das Geriesel ging weiter, das Loch vergrößerte sich mehr und mehr und mit einem Mal erschienen die Beine und der übrige Körper eines Mannes, welcher jedoch nicht herabfiel, sondern über die Zimmerdecke und die Wand krabbelte wie eine Fliege. Dem war, wie Alf bei späteren Besuchen dieses Mannes feststellte, beim Graben in diesem riesigen Gebäude jede Orientierung abhanden gekommen. Er verlor sogar den Sinn für oben und unten und irgendwann existierte für ihn auch die Schwerkraft nicht mehr.

Seinen Namen schien der verwirrt dreinschauende Mann immerhin noch zu wissen, denn er murmelte "Emil", als er vor Alf stand und mit einem schmutzigen Finger auf sich zeigte. "Wie lange bist du schon hier eingesperrt?", wollte Alf fragen, aber er hielt sich zurück, weil er sah, wie verrückt eine solche Frage bei diesem Mann gewesen wäre, und er schwieg. Auch Emil sagte jetzt nichts, nahm nur seinen Eisenhaken und machte sich an einer Wand zu schaffen.

Als der nach Tagen und langer, angestrengtester Mühe durch eine neu entstandene Maueröffnung verschwunden war, überlegte Alf, ob irgendeine Art von Schicksal ihm diesen Mann geschickt hatte, um ihn beim Nachdenken über sein eigenes Leben voran zu bringen. Doch er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Sollte er sich etwa dessen ebenso beharrliches wie nutzloses Eindringen in irgendwelche Löcher und Gänge zum Vorbild nehmen? Was er benätigte, war ein Weg, der ihn zu sich selber führte oder zu dem Menschen, den er aus sich selbst erschaffen würde.

Ein Vorbild war Emil sicher nicht, höchstens ein warnendes Beispiel. Alf war nicht gewillt, in blindem Eifer zu graben und zu graben wie dieser Mann, der auf solche Wiese niemals einen Ausgang ins Freie finden konnte, sondern bei der sinnlosen Wühlerei höchstens immer weiter in die Irre ging.

Es musste eine andere Möglichkeit geben. Er überlegte hin und her, griff dabei in seine Hosentasche, holte Scrabble-Steine heraus und ordnete sie so an, dass das Wort "Hoffnung" entstand. In diesem Augenblick fuhr ein Blitz mit einem gewaltigen Donnerschlag vom Himmel herab und erschreckte ihn so sehr, dass er mit seinem Ellbogen die Buchstaben vom Tisch fegte.

Er atmete heftig, bückte sich und hob auf, was hinab gefallen war. Dann saß er mit halb geschlossenen Augen da, als ob er tief in sich hineinschaue, und begann nach einer Weile, wieder einen Stein neben den anderen zu setzen. Ohne bewusstes Zutun, scheinbar wie von selbst entstand die Buchstabenfolge L-I-L-I-A-N-A. Er wusste es nun: Statt blind zu kratzen und zu schaben, würde er dem Weg seinen Willen lassen und dieser würde sich selber finden, nicht viel anders als ein Zellhaufen im Mutterleib ganz von selbst zum Kind werden kann oder später von einem Kind zum Mann oder zur Frau.

Copyright Peter Asmodai




























Hundstage



Sandra wachte auf und es war stockdunkel. Sie schaute auf ihren Wecker. Drei Uhr 21 und Donnerstag, der 12. August. Sie machte die Bettlampe an und sah, dass ihre Haut vor Feuchtigkeit glänzte wie die Haut einer Schnecke. Wahrscheinlich war sie aufgewacht, weil sie schwitzte. Es nützte nicht viel, dass sie das Fenster auf Kipp gestellt hatte, im Gegenteil. So kam bloß dieser Lärm rein von draußen. Sie setzte sich auf, um zu horchen, was das war, da hörte der Lärm auf. Sie sprang aus dem Bett, ging zum Fenster und schaute hinaus. Über dem Wohnblock auf der anderen Seite der Straße hing ein großer Mond, der die Stadt beschien und die Ebene, in der sie sich ausbreitete. Dieser Mond hatte ein schrundiges Gesicht wie ein vom Leben gezeichneter alter Mann, hinter dessen Schädelknochen es für freundliche Gedanken keinen Platz mehr gibt.

In seinem hellen Licht sah sie nicht nur die hoch aufragende Birke im Vorgarten, sondern auch ihre Blätter, selbst den Hundehaufen vor der Bäckerei sah sie, dabei war der gut zwanzig Meter entfernt. Dann entdeckte sie den Mann, der vor dem Baum stand. Er schien diesen anzustarren und ihn anzuschreien. Auf der Rinde konnte sie mit einiger Mühe fingerlange dunkle Umrisse erkennen, die sich sehr langsam aufwärts zu bewegen schienen. Alle paar Minuten stieß der Mann Schreie aus und klatschte in die Hände, als könne er damit für mehr Bewegung sorgen, gerade so, als habe er Schlangen vor sich oder Koalabären, die er mit seinem Klatschen und Schreien erschrecken und zu eiligerem Hochklettern antreiben könne. Der Mann ist irre, dachte sie und machte das Fenster auf.

"Was tun Sie da?" rief sie in einem Ton, der zwar ärgerlich, aber nicht aggressiv drohend war.

"Das sind Nacktschnecken", antwortete er und zeigte auf die fingerlangen Umrisse. "Die sind jetzt scheinbar alle unterwegs."

"Iieh, wie eklig!" entfuhr es ihr. "Manchmal sehe ich auf der Straße ganz viele."

"Ja, wenn es regnet. Haben Sie sich schon einmal gefragt warum? Ganz einfach: Die Viecher mögen es nicht, wenn zu viel Wasser daher kommt und nichts hassen sie so sehr wie das Ersaufen. Kriechen vor dem Wasser davon, verstehen Sie?"

"Mag ja sein, aber heute ist eine warme, trockene Augustnacht. Keine Spur von Nässe."

Der Mann zog scharf die Luft ein. "Sie wollen wissen, warum die alle den Baum hoch kriechen, stimmt´s? Tja, das ist eine gute Frage. Fällt Ihnen keine Antwort ein?"

"Hatte bisher keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Auch keine Lust. Warum sollte ich über Nacktschnecken nachdenken?"

"Sehen Sie", fuhr er eifrig fort, "in Internet-Blogs diskutiert man zur Zeit das Thema. Die meisten Blogger meinen, dass diese Tiere etwas spüren, und nur wir Menschen merken nichts."

"Worauf wollen Sie hinaus? Nun sagen Sie schon! Kommt bald ein Erdbeben und die Nacktschnecken wissen das?"

"Nein, kein Erdbeben. Dann würde es keinen Sinn machen, dass sie die Bäume hochklettern." Er holte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand einen der dunklen Umrisse, legte ihn auf den Handteller der linken, dann zerquetschte und zerrieb er das Etwas mit der Stirn. "Sehen Sie", meinte er gleichmütig, "das kann unser Schädel: Kaputt machen. Aber zu viel mehr taugt er einfach nicht."

"Hören Sie auf damit! Ich will das nicht hören. Sagen Sie mir lieber, warum die Nacktschnecken auf die Bäume klettern. Warten Sie, ich komme runter. Das will ich mir mal ansehen."

Schnell, schnell, dachte sie, griff nach der Hose und dem Pulli, alles andere ließ sie liegen, kämmte sich in Eile und schlüpfte dann mit den nackten Füßen in ihre Schlappen. Sie fühlte sich schon ein bisschen komisch, als sie so schlampig angezogen hinaus ging zu dem fremden Mann. Kaum dass sie neben ihm stand, nahm er eine zweite Nacktschnecke, zerquetschte und zerrieb sie auf die gleiche Art wie die erste. "Keine Angst, ich sage jetzt nichts", meinte er. Dann lachte er, aber es war kein fröhliches Lachen.

Da hatte sie genug und ging zurück. Im Haus war es noch immer gnadenlos heiß und sie konnte nicht einschlafen. Sie lag wach und dachte an die Nacktschnecken.

Copyright Peter Artur

























































Il Cappulcino


Il cameriere pose il cappuccino sul tavolo. Anche dopo la sua partenza però il liquido nella tazza non smise di muoversi. Al contrario, si agitò sempre di più e alla fine dalla schiuma emerse un qualcosa rotondo. Un qualcosa con un becco. Era la testa di un pulcino, colorata dal caffè.

Con due dita Mario sollevò il pulcino dalla tazza, lo mise nella sua mano destra e carezzò il piccolo animale tremante. Poi chiamò il cameriere.

"Cameriere, ho trovato questo nel mio cappuccino", disse e mostrò il pulcino.

"Un pulcino nel caffè!" esclamò il vecchio cameriere con una voce piena di venerazione. "In molti anni non è mai successo. L´ultimo cristiano che ha trovato un pulcino nel suo caffè era uno studente. In brevissimo tempo è diventato un professore universitario e un esperto celebrato nel suo campo. Oggi è famoso in tutto il mondo."

"Perché non è mai successo a me?" brontolò un signore al tavolo accanto col viso duro e una bocca piena di amarezza. "Come tutti conosco la storia dello studente e vengo qui da tanti anni, però nella mia tazza non si è mai visto un pulcino."

"Non siamo noi che scegliamo", disse il cameriere. "Solo il pulcino decide. Appare quando la persona giusta arriva a questo bar, e ciò purtroppo succede molto raramente. Io faccio questo lavoro da oltre quarant´anni e questa è solo la seconda volta. Si racconta che prima di quello studente ci fu un caso simile, ma io non so dire perché avvenne quando non ero ancora nato."

"Benvenuto pulcino", disse Mario e carezzò con molta tenerezza la sua testa e il suo dosso. "Vuoi abitare a casa mia?"

"Hai un giardino?" chiese il pulcino.

"Sì, in collina. Di là si vede il mare. Sebbene si veda soltanto quando l´aria è chiarissima, possiamo scendere alla spiaggia tutti I giorni, se vuoi."

"Mi costruirai un tempio?"

"Certo che sì. Ho ancora qualche asse acquistata al negozio "Fai da te". Probabilmente il tuo tempio avrà un po´ l´aspetto di un pollaio però sarà attrezzato di un tetto lussuosamente curvo e le pareti saranno dipinte dentro e fuori con uno smalto profondamente rosso."

Ambedue tacquero. Dopo un po´ riprese Mario: "Ora ci manca solo una bella fine per questa storia."

"No", disse il pulcino. "Ora non manca più niente."


































Meister Eckart


Eddy è contento di aver ricevuto un biglietto per un concerto in città. Glielo ha dato il suo vicino, un vecchio falegname di nome Eckart Bork, che viene chiamato da quasi tutti Meister Eckart.

"Non vuoi andare tu? " gli aveva chiesto Eddy, per educazione.

"Certo, ne avrei voglia", gli aveva detto il vicino di casa , "Ma mia nipote verrà battezzata in questo stesso giorno e devo festeggiare con la famiglia, probabilmente fino a tardi".

Meister Eckart differisce da tutti i falegnami che Eddy conosce. Lui utilizza esclusivamente legno a lungo stagionato e di alta qualità, che non viene mai trattato con prodotti chimici. "Non li voglio ", dice. "Se il legno è buono, non ha bisogno di una mano di vernice. Non sarà infettato da nessun verme e si mantiene bene anche contro tutte le altre possibili contaminazioni." Solo quando un cliente dice, che un´oggetto verrà usato molto ed eventualmente macchiato - come un tavolo, per esempio - allora lui glielo strofina su sua richiesta con cera naturale.

Prima di fare un tavolo poi, si mette a lungo dove questo tavolo verrà in seguito sistemato. Desidera anche vedere dal vivo tutta la famiglia e gli amici che si siederanno intorno a questo tavolo, per mangiare insieme. In questa maniera egli crea pezzi unici, che non sono soltanto adatti perfettamente al loro ambiente, ma che anche lo trasformano in qualcosa di speciale, lo nobilitano con la loro presenza, per così dire.

Lui è innamorato di ogni opera delle sue mani e vuole che i suoi clienti le apprezzino anche loro, proprio come lui. Devono stimare l´opera come una persona cara. Non gli piacciono le persone fredde e insensibili, che s´interessano solo al prezzo e sono capaci di vendere subito anche il più bel mobile, non appena un modello nuovo appaia sul mercato. Certa gente lui la scaccia senza esitazione.

Ha in oltre le sue riserve anche verso i tifosi troppo entusiasti. Dapprima li scruta molto attentamente e se è il caso gli dice subito di andar via. Infatti ci sono quelli che lì per lì hanno subito una fiammata altissima, che brucerà però solo un giorno. Dopo si rivelerà poi invece così bassa, da poter essere spenta solo con una semplice scarpa. Eckart non si fida affatto del loro fiato febbrile, con il quale volano rapidamente da una sensazione all´altra, come drogati.

Lui preferisce quelli che trattano i loro mobili nuovi, come un uomo responsabile tratta sua moglie o la sua amante, con un amore che viene acceso dalla scintilla giusta. Questo amore deve avere il tempo di crescere, fino a quando non diventi indistruttibile e quasi trasparente, dopo che tutti i lati oscuri siano stati disciolti in brillante chiarezza, continuando a mantere però il loro segreto e la loro attrazione, senza perderne niente.

Per Meister Eckart era più facile trovare il legno giusto, che trovare la sua donna. Si era sposato una volta e aveva scelto la donna giusta, ma lei un giorno gli morì di cancro al seno, prima di aver raggiunto l'età di quarant´anni. Da allora poi ogni tanto una donna si era avvicinata a lui, ma o lei aveva fallito o era stato lui a fallire davanti a lei. Scelse infine poi di vivere solo. Proprio tutto solo in realtà no, non è esatto. Meister Eckart ha ancora fratelli, sorelle e nipoti, che lo amano e poi i suoi clienti quasi tutti diventano con il tempo membri della sua famiglia.

C´è in realtà solo una cliente che lui non accoglie più nella sua grande famiglia. Una volta lei lo visitava spesso nel suo laboratorio e lo abbracciava da dietro al collo, contentissima ed eccitata, a causa di una cassettiera che Eckart B. aveva fatto per lei. Appena poteva, era entrata di continuo, per seguire lo stato di avanzamento dei lavori. Col tempo aveva finito per innamorarsi non solo del capolavoro, ma anche del maestro stesso.

Quando lei quel giorno lo abbracciò da dietro al collo, lui stava lavorando alla sega circolare e un momento di disattenzione era stato più che sufficiente alla lama, per tagliargli quattro dita della mano destra. Terribilmente spaventata a questa vista, la donna era scappata a cercare aiuto. Trovò una vicina, che medicò la ferita in modo provvisorio. Nessuna delle due donne aveva però una macchina e ci volle molto tempo, fino a quando non ebbero trovato un autista, per portare Eckart B. e le sue quattro dita sanguinanti in un ospedale del capoluogo del distretto.

La macchina ebbe poi un guasto al motore, lontano da un luogo abitato e nella concitazione della partenza purtroppo nessuna di loro aveva pensato di prendere un telefonino. Ci vollero ore per arrivare infine in ospedale e lì scoprirono che, cambiando veicolo in fretta, avevano trasportato sì Meister Eckhart, ma non le sue dita. Dopo una ricerca frenetica fu poi chiaro che queste non erano più in macchina, ma dovevano essere state perse altrove. Sulla strada non si trovarono. "È del tutto plausibile che un animale le abbia trovate e mangiate", aveva poi detto un uomo. In somma quello che infine successe fu che le dita non furono più cucite alla sua mano e che Eckart aveva dovuto quindi rinunciare al suo lavoro.

Diminuito nelle sue capacità di agire a causa dell´incidente, Meister Eckart non divenne però solo per questo un invalido. Quest´uomo aveva sempre dimostrato grande vicinanza all´arte. Si aprì allora completamente all´estetica, cioè alla scultura, alla pittura e alla musica, sviluppando per quest´ultima una sensibilità e ricettività enorme.

Quando Eddy tornò infatti dal concerto, scoprì che Meister Eckart non conosceva affatto il musicista, un pianista russo. Però gli diede subito l´impressione, come di essere stato presente al concerto. "Lo vedo" disse Eckart B. "Lui sta lì, cresce verso l´alto, come un albero e a chi lo ascolta non sembra di sentire musica umana, ma piuttosto un canto dell´ampiezza e dell´oscura profondità delle foreste russe."

"È cresciuto in aria sul suo sgabello di pianoforte, come un albero?" ripeté Eddy e si accorse con sorpresa, che era effettivamente successo così. Sì, tutte le cose erano successe proprio così.

Poi continuò a parlare Meister Eckart. E mentre stava parlando, la sua mano destra cambiava. Sembrava che gli stessero crescendo quattro nuove dita. Stavano crescendo, crescendo sempre più in alto. Sì, gli abeti siberiani crescono in aria così. Spuntano rami e ramoscelli, una dozzina di braccia e un centinaio di dita, che si uniscono per far apparire una foresta. Giocando, buttano giù una quantità di aghi di un verde chiaro.

"Lui si è trovato" pensò Eddy, ma non disse nulla. Contemplò in silenzio il compimento del miracolo.

Copyright Peter Artur




























Con il pusto

Per la nuova casa ho speso una barca di soldi. In questa città chiedono prezzi di acquisto esagerati. Avevo iniziato presto a mettere a posto le cose e ad arredare le stanze. Ero stato nella mia nuova abitazione solo poco tempo, forse 50 ore, quando si verificò un´incidente fastidioso.

Avevo riempito vari buchi con lo stucco, imbiancato le pareti, montato i mobili, aperto gli scatoloni del trasloco e stavo ormai avvitando il guardaroba, quando sentii dei passi dietro di me. Mi voltai e vidi un giovane esile, di media altezza, con un naso camuso e un volto straordinariamente pallido che correva verso di me nel corridoio.

Lancelot ringhiava ed io l´afferrai al collare. Rimasi senza parole, inorridito, paralizzato. Il ragazzo alzò la mano sinistra e sibilò "Shhh!". Bruscamente il suo volto diventò ancora più pallido, come quello di un morto. Non mi sembrava di avere a che fare con un essere umano in carne ed ossa, ma piuttosto con una fotografia, come una figura sovraesposta su una foto in bianco e nero. Ero così sorpreso che non riuscii a parlare e la figura corse via lungo il corridoio e scomparve.

Lancelot è un Rottweiler, un cane forte e coraggioso. Chiaramente ha l´istinto di difendere la casa. Però non voglio rischiare fastidi con la legge perché ha morso qualcuno. Quindi lo faccio andare nella mia camera da letto e chiudo la porta a chiave.

A mezzogiorno il mio stomaco si faceva sentire e volevo uscire e mangiare qualcosa, ad esempio un bel panino al formaggio con i pomodori. Per un pelo stavo per cadere giù per le scale, perché mi ero spaventato. Com´è di moda in certe case nuove avevano inserito una lastra di vetro accanto alla porta d´ingresso e proprio lì vidi il giovane pallido, che probabilmente voleva osservare quello che succedeva in strada. Prima che potessi parlare con lui, si era già ritirato da qualche parte. Da qualche parte, sì - ma dove? Io non avrei potuto dirlo, sorpreso come ero da questo incidente.

Sin dall´inizio l´abitazione era stata freddissima, anche se avevo aperto i radiatori al livello più alto e avevo sentito un basso ronzio che mi diceva che il riscaldamento a gas era acceso.

Presto scoprii il motivo del freddo. Quando ispezionai le stanze, trovai regolarmente spalancata una delle finestre. Non serviva chiuderne una perché istantaneamente in qualche parte lontana della casa qualcuno ne apriva un´altra. La mia camera da letto era l´unico vano della casa senza temperature gelide. Lì avevo messo la cuccia del cane e la porta rimaneva chiusa giorno e notte.

Quando due giorni dopo, era un venerdì, entrai nel soggiorno notai un´ombra. Guardai più da vicino e vidi due figure sul balcone. La porta del balcone era spalancata e l´aria gelida si riversò dentro. Rabbrividendo per il freddo e la rabbia volevo marciare verso i due e dire qualcosa, però esitai - frenato dal pensiero che era venerdì e che forse partecipavano a qualche cerimonia religiosa.

Nella confusione più totale ambedue entrarono nel soggiorno. Levarono la mano sinistra, sibilando "Shhh!" e si affrettarono a scomparire. Erano il ragazzo pallido e una donna grassissima, pallida come lui e almeno quindici anni più vecchia di lui. Dopo la loro partenza rimasero sul parquet resti di neve e impronte bagnate. Ma perché preoccuparmi? Con questi intrusi almeno non sarebbe cresciuta la muffa dentro la casa. La tenevano ben ventilata, e da qualche parte soffiava sempre l´aria, una volta di qua, una volta da un´altra stanza.

Il giorno dopo volli usare il bagno, ma la porta era chiusa. Provavo un bisogno urgente di andare in bagno e quindi passai tre o quattro minuti estremamente a disagio, fino a quando finalmente sentii tirare lo sciacquone e subito un uomo che non avevo mai visto uscì dal bagno e scappò via.

Il water era sporchissimo e l´uomo aveva lasciato pozzanghere di pipi sul sedile. `Meglio così, pensai. Ero sollevato: Se a prima vista gli intrusi sembravano essere figure spettrali, in realtà non lo erano, perché i fantasmi non utilizzano i servizi igienici.

La domenica qualcuno mi svegliò con la prima luce del sole. Alcune persone avevano aperto uno scatolone da trasloco e il cassettone vicino al letto e scompigliavano le mie cose. Mi scossi come punto da una tarantola, e quando loro lo notarono se ne andarono in fretta. Mi guardai intorno e non vidi il mio cane nella sua cuccia. Lancelot è un Rottweiler grande e forte. Non avrebbe mai lasciato entrare nessuno in camera mia. Ero sicuro che questi malviventi avevano drogato o avvelenato Lancelot. Dove era il mio cane?

Saltai fuori dal letto, mi vestii rapidamente ed entrai nel corridoio. Lì parecchia gente passava correndo davanti a me. Li lasciai andare e mi diressi verso la cucina. Tre degli intrusi erano seduti sulle mie sedie e bevevano il mio caffè, due uomini e una donna, tutti cinquantenni, tutti pallidi, con la pelle come il cuoio.

"Dove è il mio cane?" chiedo, rivolgendomi ai due uomini. All´inizio non rispondono e perciò ripeto la domanda, questa volta più forte. I tizi si guardano, poi uno fa lentamente e come annoiato: "Ha assaggiato il pusto."

Sento salire l´ansia e la rabbia dentro di me. "Che cosa ha assaggiato?"

"Il pusto."

"Di che cosa parla?" ringhio arrabbiato.

"Un pusto è un pusto." Alza il braccio, come se volesse agitare un oggetto nella mano, con il quale avrebbe potuto colpire qualcuno.

Comincio a sospettare una cosa sconvolgente: "Vuoi dire un bastone?"

"No, niente bastone." Lui esita, mormora, ronza, non mi dà una risposta chiara: Alla fine lo prendo per il colletto della camicia e grido: "Ma non con un tondino di acciaio?"

L´uomo mi guarda confuso e non ho dubbi che questa volta ho indovinato. Urlo: "Con un tondino d´acciaio? Qualcuno colpisce il mio cane qui in casa mia con un tondino di acciaio? "

"Un cane ne ha bisogno", dice il tizio con ostinazione.

"Chi ha fatto questo?" Bollo di rabbia. Silenzio. Lo afferro di nuovo e questa volta il colletto della camicia e il maglione vengono strappati: "Ti strappo la testa, bastardo! Chi è stato?"

"Uli" esclama.

"E dov´è Uli?"

"Da qualche parte. Non lo so." Muove una mano in aria tracciando un semicerchio, indicando nessuna direzione particolare o forse tutte.

Urlo così forte che tremano le pareti: "E dov´è il mio cane?"

Qualcuno mi deve aver sentito. Come dall´alto, dal livello del tetto, pare sentirsi il cigolio di una porta, e poco dopo arriva il cane. Sulle zampe pezzi di pelliccia sono strappati e in quei posti si può vedere la sua nuda pelle rosa.

"Dove si trova quella bestia?" grido.

Poiché nessuno dice niente, corro su per le scale, il cane dopo di me, e scopro sotto il tetto una parete con una porta, ovviamente la parete di una camera - non l´ho mai vista, perché prima dell´acquisto della casa non sono ancora stato qui. Giro la maniglia, ma la porta è chiusa a chiave.

"Aprite!" grido, ma nessuno apre.

Grazie al lucernario posso guardarmi intorno e inaspettatamente trovo una grossa barra di ferro e torno alla camera.

"Aprite!" grido di nuovo, ma ancora una volta non succede niente.

"Aprite, o butto giù la porta!" grido.

"Questa è la tua porta," urla ora una voce da dentro.

Che sia la mia porta o no, che importa. La colpisco con i calci e con la barra di ferro, come un pazzo, fino a quando il legno va a pezzi. Di fronte a me vedo ora un uomo sessantenne con un tondino di acciaio in mano. Non perde tempo e alza il braccio con la sua arma. Lancelot ringhia e mi butto sul criminale. È più forte di quanto avessi pensato e ne consegue un combattimento duro e violento, ma alla fine riesco a prendere il tondino di acciaio e gli affibbio un bello schiaffone. Lui si lamenta e piagnucola, ma io non mi fermo e alla fine, spingendolo, lo butto giù per le scale.

Andando avanti incontro varie persone a ciascuno di questi signori concedo un paio di colpi forti col pusto, mentre se ne vanno veloci. Il sessantenne entra in cucina davanti a me, dove incontriamo i bevitori di caffè.

Non spreco molte parole: "Ora conto fino a tre e chi non è fuori in tempo assaggerà il pusto."

Subito tutti si precipitano verso la porta e fuggono, come se il diavolo fosse alle loro calcagne. Inseguo i bevitori di caffè e il sessantenne. Quando sono andati via chiudo la porta con la chiave e con la barra di ferro trasversa.

Poi dico "cerca" e il cane avanza, con fatica e zoppicante, ma cupamente determinato. Prima va nella mia camera da letto. Lì trova la donna grassa del balcone. Indossa solo una canotta scollata, senza mutandine, e sta mangiando cioccolatini. Un odore invadente di sudore o piuttosto di carne marcia stagna in camera e le lenzuola sono spalmate di qualcosa di color marrone. A quanto pare su di esse ha asciugato le dita e la bocca e forse anche il sedere. Per incoraggiarla a partire le do due o tre colpi con il buon vecchio pusto, e lei fugge strillando. Apro la finestra per far entrare aria fresca e per gettare fuori il resto dei suoi vestiti. Se ha freddo, avrà bisogno di cercarli per vestirsi.

Con la stessa decisione procedo quando scopro il giovane pallido, nel ripostiglio delle scope, insieme ad una ragazza grassa, entrambi nudi. Li caccio via con il pusto, e scaglio la loro roba nella strada. La ritroveranno e reperiranno anche un altro posto per scopare. Poi insieme al cane controllo tutte le stanze. Chiudo le finestre aperte, anche quella a piano terra dalla quale i tre ultimi intrusi sono saltati fuori. Quando non vedo più nessuno, chiamo un amico falegname e faccio sostituire la serratura della porta d´ingresso e chiudere saldamente le finestre.

Finalmente stiamo tranquilli e nessun estraneo sgattaiolerà più qui dentro. Lancelot è stato male per alcuni mesi, ora però è quasi guarito. Ogni tanto mi metto a pulire la casa da cima a fondo nella speranza di togliere persino l´ultima micro traccia della marmaglia che ci ha afflitto.

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Il criceto nano



Era domenica e stavo davanti a un recinto nello zoo di Hellabrunn. Beh, non era un vero e proprio recinto, ma qualcosa di due metri quadrati, qualcosa di piccolo, più simile ad una gabbia, aperta in alto e dentro non c'era niente da vedere, tranne una cassetta di legno che sembrava emanare un´odore animale. Ma in uno zoo si mescolano comunque migliaia di odori.

"Zwerghamster" (criceto nano) era segnato sulla targhetta e mi chiedevo a chi cavolo sarebbe mai potuta venire l'idea di mostrare al pubblico un tale animale, ammesso che si fosse potuto veramente vedere qualcosa. Numerosi ragazzi usavano avere un criceto come animale domestico, anche un criceto nano. In questa città costosa, la superficie delle abitazioni è molto limitata. Ci sono quindi treni mini, giocattoli mini e molte altre cose sono piccole, oltre naturalmente ai grandi schermi televisivi.

Ma questo ora non importa. C´era veramente un criceto nano? E perché allora non si vedeva?

All´improvviso mi accorsi della presenza di qualcuno accanto a me. Odio quando un estraneo si avvicina troppo a me e limita lo spazio attorno di cui ho bisogno. Quindi feci subito un passo a sinistra per allontanarmi da lui.

"Non aver paura", mi disse. "Non voglio farti del male", e subito si avvicinò di nuovo fino a due o tre millimetri dal mio braccio destro.

"Phodopus Roborovskii", `Criceto Roborovski´, annunciò con uno speciale tono di voce, come se volesse presentare solennemente la scoperta di un nuovo mondo. "Lunghezza circa dieci centimetri più tre centimetri di coda, da 30 a 38 grammi di peso."

"Non vedo nulla," dissi, mentre guardavo la cassetta di legno vicino alla parte posteriore della gabbia. "Probabilmente si nasconde. Lei viene spesso in questo zoo?"

"Sì," disse l´uomo "ogni giorno. I leoni e le zebre non m´interessano, mi interessa solo il Phodopus Roborovskii."

Mi guardò e disse: "Caro amico, non ci conviene fare troppo, perché non possiamo comprendere tutto. A me per esempio basta il Phodopus Roborovskii. Già lui è difficile e chi lo capisce veramente? Guarda un batterio durante cento anni ed io ti dico che non saprai quasi nulla su di lui. E un batterio è semplice come la punta di un ago rispetto al Phodopus Roborovskii."

L´uomo è pazzo, cominciai a pensare. Pensai quindi alla nostra scienza, alle centinaia, migliaia, milioni di esperimenti ed osservazioni scientifiche e conclusioni, ai milioni di libri: una massa enorme come le piramidi ed anche più grande di queste, un sapere che raggiunge l´infinito.

E qui mi arriva invece un ignorante, uno che non sa nulla e vuole insegnare a me. Perché non buttarlo fuori? Chi ha bisogno di uno come lui? Le nostre ruote di mulini continueranno di sicuro a girare anche senza di lui.

"Ha mai visto uno di questi criceti nani?" chiesi.

"No, non proprio," disse l´uomo. "Se lui è fuori e sente da lontano un passo di un uomo, questo animale si ritira subito nella sua cassetta."

"Ma allora vieni qui ogni giorno per studiare il Phodopus Roborovskii e non l´hai mai visto?"

"Non è proprio così", rispose. "Se ci si ferma qui abbastanza a lungo, potrebbe succedere che lui allunghi il naso rosa da quel buco, perché vuole sentire l´odore e, se si è molto fortunati, si vedrà anche mezza testa oppure tutta con gli occhi neri."

"E ti guarda?" dissi in realtà solo per non essere scortese.

"Forse" rispose. "Un uccello da preda ha occhi acuti, il criceto no. Si fida più del suo naso delicato e del suo udito. Può darsi che a volte voglia solo spingere le orecchie in avanti, ma normalmente piÜ di tutto desidera avere pace e tranquillità nel corso della giornata. Al buio probabilmente esce dalla sua cassetta, perché è un animale notturno. Peccato che di notte lo zoo sia chiuso."

"E per vedere il naso rosa e le orecchie vieni qui così spesso?"

"Sì, questo mi soddisfa in qualche modo. E tu, cosa fai di significativo durante la settimana?"

Lavorare, pensavo, mangiare, bere, fare acquisti, a volte fare all´amore con una donna. Ma significativo?

"Oh, tante cose," dico e mi vergogno un po´, perché difatti non so dare una risposta proprio valida.

"Beh, sai", continuo, "Sono un artista. Dipingo, scrivo, compongo."

"E a che punto speri di arrivare?"

"In cima potrei dire, se fossi uno spaccone. Ma no, forse sono come te e vorrei solo scoprire un naso rosa che si apre un po´ al mondo e orecchie che sentono qualcosa. Se raggiungerò quel punto, credo che sarò arrivato alla meta. E allora noi due dovremmo assolutamente vederci per fare un brindisi insieme.

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